Erzählverse: Der Blankvers (46)

Friedrich Hölderlins „Hyperion“ sollte man gelesen haben – auch wenn es ein Prosatext ist. Aber auch Hölderlins Prosa ist sehr rhythmisch, da fühlt man sich nicht fremd …

 

Wie unvermögend ist doch der gutwilligste Fleiß der Menschen gegen die Allmacht der ungeteilten Begeisterung. Sie weilt nicht auf der Oberfläche, fasst nicht da und dort uns an, braucht keiner Zeit und keines Mittels; Gebot und Zwang und Überredung braucht sie nicht; auf allen Seiten, in allen Tiefen und Höhen ergreift sie im Augenblick uns, und wandelt, ehe sie da ist für uns, ehe wir fragen, wie uns geschiehet, durch und durch in ihre Schönheit, ihre Seligkeit uns um.

 

– Eine meiner Lieblingsstellen. Zum Hyperion gibt es aber auch einen nicht allzulangen „metrischen Entwurf“ in Blankversen; und daraus möchte ich einige Verse vorstellen.

 

Da hört‘ ich einst von einem weisen Manne,
Der nur seit kurzem erst ein nahes Landhaus
Bewohn‘, und unbekannt, doch aller Herzen,
Der kleinen wie der größern, mächtig sei,
Der meisten freilich, weil er fremd und schön
Und stille wäre, doch auch einiger,
Die seinen Geist verständen, ahndeten.

Ich ging hinaus, den seltnen Mann zu sprechen.
Ich traf ihn bald in seinem Pappelwalde.
Er saß an einer Statue; vor ihm
Ein Knabe; lächelnd streichelt‘ er die Locken
Mit sanfter Hand dem Knaben aus der Stirne,
Und blickte stumm mit Schmerz und Wohlgefallen
Das holde Wesen an, das frei und freundlich
Dem königlichen Mann ins Auge sah.
Ich stand von fern und ruht auf meinem Stabe.
Doch da er um sich wandt‘ und sich erhub
Und mit entgegentrat, da widerstand ich
Dem neuen Zauber, der mich izt umfing;
Mit Mühen kaum, dass ich den Geist mir frei
Erhielt, doch stärkte mich des Mannes Ruh
Und Freundlichkeit auch wieder wunderbar.

 

Reine Erzählung?! Und sichere, ausgewogene, schöne Verse. Was daraus geworden wäre, ob sie sich überhaupt so erhalten hätten – wer weiß; aber sie sind auf jeden Fall der Aufmerksamkeit wert! (Ach ja: „ahndeten“ = „ahnten“!?)

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