Erzählformen: Das Reimpaar (10)

Bestimmte Formen erwecken bestimmte Erwartungen. Eindeutige Zuordnungen gibt es da zwar nicht; aber wenn ein Text mit „Das Sein“ überschrieben ist, erwartet man nicht unbedingt, dass er in Reimpaaren aus iambischen Vierhebern gestaltet ist?! Solche Reimpaare werden eher mit „Lustigem“ verbunden, bei „Gedanken-Gedichten“ erwartet man vielleicht ein Sonett. Friedrich Hebbel sind derlei Überlegungen gleichgültig:

 

Das Sein

Geheimnis, wunderbar wie keins,
Des In- und Durcheinanderseins
In dem unendlichsten Gewühl
Durch Sinn, Gedanken und Gefühl.
Der ewige Strom fließt ab und zu,
Wo fang ich an? Wo endest du?
Du sprichst ein volles, tiefes Wort,
Das wirkt in meiner Seele fort,
So webst du dich in mich hinein,
Denn, was es schafft, ist dein wie mein.
Und was der Mund nicht sagen kann,
Sieht eines doch dem andern an,
Alsbald erwacht Verschlingungstrieb,
Und eines hat das andre lieb.
Der fernen Sonne ew’ge Glut
Durchdringt belebend mir das Blut,
Was in dem Schoß der Erde gor,
Rankt sich als Wein zu mir empor,
Und was nicht in die Sinne fällt,
Hält ahnungsvoll das Herz geschwellt,
So dass selbst Gott mich nur erdrückt,
Damit er mich mir selbst entrückt.
So braust in wohlgemessnem Takt
Dahin des Lebens Katarakt,
Dass jeder Tropfen, der entspringt,
Nach Maß jedwedes Sein durchdringt,
Dass alle Form nur Grenzen steckt,
Damit sie Eigenstes erweckt,
Und dass das ungeheure All
Sich umwälzt in dem kleinsten Ball.

 

Ob der Versuch gelungen ist? Sicher ist Hebbels Sprache hier wie in allen seinen Gedichten – wie er hier einen Satz durch acht Vierheber führt, führt er ihn anderswo auch durch acht Hexameter oder vier Distichen. Daran kann das leichte Fremdeln, das sich beim Lesen einstellt, kaum rühren … Also doch ein ungewohntes Zusammenkommen von dieser Form und dieser in ihr verhandelten Sache?!

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