Das sapphische Elfsilber (2)
Die Zäsur ist wie in allen Versen auch für den sapphischen Elfsilber wichtig; auf die nach der fünften Silbe wurde ja schon hingewiesen, und wie diese Zäsur im Vergleich zu den anderen arbeitet – das lohnt einen Blick. Der soll auch getan werden, hier aber geht es noch, kurz, um die Notwendigkeit, nicht nur die Zäsuren, sondern auch die Bewegungslinien der Verse an sich abwechslungsreich zu gestalten!
Die folgende Strophe stammt von Christian Graf zu Stolberg:
Bis zur späten Schwelle des Lebens freute
Sich der weise, singende Greis, und kränzte
Seine glatte, glühende Stirn‘ und haschte
Fliehende Nymphen.
– Angesichts der vielen Berichte, die zu seinem 80. Geburtstag geschrieben worden sind letztlich: könnte man meinen, hier geht es um Hutfreund Leonard Cohen; aber nein, die Ode „An meinen Bruder“ hat Stolberg „eingeschrieben in einen ihm gegebenen Anakreon“. Zu Anakreon passen die Nymphen auch besser, irgendwie …
Jedenfalls fällt an der Strophe einiges an Gleichlauf auf: Jeder der drei Elfheber endet mit einem Prädikat, und der zweite und dritte sind sogar genau gleich gebaut!
TAM ta TAM ta / TAM ta ta TAM / ta TAM ta
– Diese Bewegungslinie ist ganz hübsch, ihre Wiederholung aber ein kleines Wagnis? Erst recht, wo inhaltlich auch ähnliches verhandelt wird. Aber ich denke, es wirkt sich zum Guten aus, auch da mit „Anakreon“ ja leichte, spielerische, und eben durchaus wiederholende Verse verbunden werden.
Als Vergleich eine (viel spätere) Strophe aus Ricarda Huchs „Heimkehr“ – angeredet wird die „heimische Erde“:
Nie vergaß ich deiner, die mich verstoßen
Und des Kleides Saum, eine raue Mutter,
Aus den bang umklammernden Händen losriss –
Kennst du mich wieder?
– Der erste sapphische Elfsilber hat den Einschnitt nach der sechsten Silbe, der zweite nach der fünften; der dritte kommt ganz ohne Einschnitt aus. Dadurch ist der eine Satz, der sich durch alle drei Verse bewegt, ehe er im „losriss“ eindrucksvoll zum Stehen kommt, schön und abwechslungsreich gestaltet?!