Erzählformen: Das Distichon (11)

Es gibt unzählige Sonette, die über das Sonett reden: Das Nachdenken der Form über sich selbst. Das ist selbstredend nicht an das Sonett gebunden – auch Distichen, die etwas über das Distichon aussagen, gibt es! Nicht ganz so viele, aber immerhin einige. Ein Beispiel ist „Das elegische Distichon“ von Josef Weinheber, zu finden in seinen „Sämtlichen Werken“, Band 2, Müller 1954, auf den Seiten 624 und 625.

 

Hirtlicher Vers, du schwindest dahin? Und hatten doch einstens
Liebende schön dich ersehnt, Sänger dich frurchtbar gemacht!
Wohl rührt Wehmut uns an im Zauber bukolischen Bildes,
aber wie lang noch gelingt’s, dass wir das deine verstehn?
Holde Zerbrechlichkeit, doch eben darum von Bestande,
tief versponnene Welt, Pulsschlag des inneren Seins …
Treulos und klug, vom leiseren fort, erstrebten die Dichter,
und die eherne Zeit greift nach dem wilderen Sang.
Schrecken jeglicher Art umbranden die Pforten des Herzens,
nichts betuliches mehr duldet des Sängers Beruf.
Kriegsmann er, am Kriege entfacht, verschworen dem Kriege,
schließt ihm Gefährdung den Mund, oder ihn spornt die Gefahr.
Furchtbar gehn wieder die Schlachten, o Schlachten der Faust wie des Geistes,
zwecklos Träne, sie irrt um der Getöteten Mal.
Was nicht taugt in des Tags gehäuftes Maß der Verpflichtung,
stirbt, stehn Männer nicht auf, Zwecklosem Anwalt zu sein.
Wer behütet den Sinn und wagt das Unzeitgemäße,
Haben die Dichter nicht Mut: Klage und Trauer und Traum?
Sie, doch ewig im Abschied, um ewig Heimat zu finden,
müssten sie, friedlicher Vers, Deines nicht leidvoll erneun?
Ach, versuch’s, ersterbender Klang! Vielleicht, dass der Götter
Segen noch einmal dir schenkt: Zukunft, Lebendigkeit, Glück.

 

„Tief versponnen“ – das trifft vielleicht gar nicht schlecht auf Weinhebers Verse selbst zu. Ganz einfach ist es nicht, will man ihnen folgen; aber es lohnt sich, denn die Bewegungslinien sind immer klar und ausdrucksstark!

Wie in vielen in Distichen geschriebenen Texten gibt es auch hier manche Distichen, die, statt in einem Text aus elegischen Distichen zu stehen (also einer längeren Reihung von Distichen), als Epigramm stehen könnten, als einzlenes Distichon mit pointiertem Inhalt.  Das letzte Distichon zum Beispiel; oder dieses:

Wer behütet den Sinn und wagt das Unzeitgemäße,
Haben die Dichter nicht Mut: Klage und Trauer und Traum?

Und auch Weinhebers ganz eigener Tonfall tritt hier im Kleinen genauso hervor wie aus dem großen Ganzen des gesamten Textes.

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