Erzählverse: Der trochäische Vierheber (32)

Bevor es  mit den Hexametern Heyses weitergeht, eine kleine Abwechslung in Form eines Gedichts von Christian Morgenstern, das, wie so oft bei diesem Verfasser, angenehm eigenartig daherkommt:

 

Mensch und Möwe

Eine neugierkranke Möwe,
kreiste ich zu Häupten eines
Wesens, das in einen weiten
dunklen Mantel eingewickelt,
von dem Kopfe einer Buhne
auf die grüne See hinaussah.
Und ich wusste, dass ich selber
dieses Wesen sei, und war mir
dennoch selbst so problematisch,
wie nur je dem klugen Sinne
einer Möwe solch ein dunkler
Mantelvogel, Mensch geheißen.
Warum blickt dies große, stumme,
rätselhafte Tier so ernsthaft
auf der Wasser Flucht und Rückkehr?
Lauert es geheimer Beute?
Wird es plötzlich aus des Mantels
Schoß verborgne Schwingen strecken,
und mit schwerem Flügelschlag den
Schaum der weißen Kämme streifen?
So und anders fragte rastlos
mein beschränktes Möwenhirn sich,
und in immer frechern Kreisen
stieß ich, kläglich schreiend, oder
ärgerlich und höhnisch lachend,
um mich selber … Da erhob sich
aus dem Meere eine Woge …
stieg und stieg … Und Mensch und Möwe
ward verschlungen und begraben.

 

Mir gefällt es. Und der Vers auch; Morgenstern springt oft mit dem Sinn  aus dem einen in den nächsten Vers, aber wenn man den Text laut und vergleichsweise langsam liest, merkt man: Der Vers formt die Sprache auch. Spürbar.

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