Paul Heyses „Hexameter-Brief“ (4)
Die Verse 91 – 103:
Nicht goldwägerisch misst nach Gran und Skrupel den Lautwert
Unser germanisches Ohr; den Sinnwert wägt es vor allem.
Wo sich der Verstakt feindlich entgegenstemmet dem Wortton,
Gönnen wir diesem den Sieg; es soll statt ruhigen Aufbaus
Kein Aufbau uns begegnen und nicht Freiheit statt der Freiheit,
Ob auch, streng auf der Wage des sinnlichen Lautes gewogen,
Ein Diphthong gleich wuchtet dem anderen. Sind doch die Quellen
Noch nicht völlig versiegt, daraus vor manchem Jahrhundert
Unsere Dichtung sog ihr frisch aufsprossendes Leben.
Walthers und Wolframs Deutsch – wohl ist’s verklungen; wir lernen
Fast wie Fremde den Ton des Kürenbergers. Und gleichwohl
Schlägt noch immer der Puls, der blutsverwandte, mit freier
Hebung und Senkung, mächtig im Verse des Faust und des Volkslieds.
– Gran und Skrupel: Alte, kleine Masseneinheiten; heute durchs Gramm ersetzt.
– Aufbau: Dient Heyse als Beispiel für seine Aussagen, der „Verston“, also das Metrum, habe hinter dem „Wortton“, der gewöhnlichen Wortbetonung, zurückzustehen. Die beiden scheinbar gleichen „Aufbau“ des Textes unterscheiden sich nämlich dadurch, dass das eine dem Verston sich unterordnet, das andere dem Wortton genügt:
Gönnen wir / diesem den / Sieg; || es / soll statt / ruhigen / Aufbaus
Kein Auf- / bau uns be- / gegnen || und / nicht Frei- / heit statt der / Freiheit,
In der „antikisieren“ Darstellung:
— v v / — v v / — || v / — v / — v v / — —
— — / — v v / — v || v / — — / — v v / — —
Das „Aufbau“ am Ende des ersten Verses genügt dem Wortton, die für gewöhnlich betonte Silbe „Auf-“ besetzt die Hebungs-Stelle, das zwar immer noch einigermaßen stark, aber doch schwächer betonte „-bau“ die Senkungs-Stelle; damit ist der sechste Versfuß so nah an einem antiken Spondeus, wie es das Deutsche leisten kann.
Das „Aufbau“ am Beginn des zweiten Verses wird anders verwendet: Die für gewöhnlich betonte Silbe „Auf-“ besetzt die Senkungs-Stelle, das eigentlich schwächer betonte „-bau“ die Hebungsstelle. Dadurch sollen sich die Stärken der beiden Silben angleichen und die genaue Nachbildung eines antiken Spondeus ermöglichen (beide Silben des Versfußes sind gleich schwer).
Der Unterschied für das Ohr ist beachtlich!
– Freiheit: Ein zweites Beispiel, das genauso verfährt, wie gerade für „Aufbau“ gezeigt. Sicher ist die versuchte Nachbildung des antiken Fußes gewöhnungsbedürftig; aber es wäre, andererseits, auch nicht klug, diese Möglichkeit ganz und gar aus dem Vers zu verdammen. Der Hexameter ist auf Abwechslung und Abwandlung stärker angewiesen als andere Verse; der „geschleifte Spondeus“ kann dazu einen Beitrag leisten. Nur sollte man ihn als Verfasser sparsam einsetzen und nicht zur Regel machen; ihn nur an herausgehobenen Stellen verwenden. Gerade für das Wort „Freiheit“ gibt es dabei ein berühmtes Beispiel, von Friedrich Schiller:
Freiheit / ruft die Ver- / nunft, || Frei- / heit die / wilde Be- / gierde,
— — / — v v / — || — / — v / — v v / — v
– Eigentlich wie bei Heyse, vom Aufbau her? Aber in der Wirkung schon darum beachtlich, weil es „Freiheit“ durch eine gewisse Freiheit im Versbau ausdrückt. Wie Schiller bei diesem Vers gelandet ist, wird in einem anderen Hexameter-Eintrag erwähnt: Schiller verbessert (2)
Walther, Wolfram, Kürenberger: Mittelalterliche Verfasser, deren Verse man heutzutage allerdings wirklich „fast“ als Fremder liest. Leider lesen muss … Und die ja durchaus auch ihre ganz eigenen metrischen Grundlagen haben!