In „Kampagne in Frankreich 1792“ schreibt Goethe:
Das Publikum selbst schätzte längere Zeit die vossischen früheren Arbeiten, als geläufiger, über die späteren; ich aber hatte zu Voß, dessen Ernst man nicht verkennen konnte, immer ein stilles Vertrauen und wäre, in jüngeren Tagen oder andern Verhältnissen, wohl einmal nach Eutin gereist, um das Geheimnis zu erfahren; denn er, aus einer zu ehrenden Pietät für Klopstock, wollte, solange der würdige, allgefeierte Dichter lebte, ihm nicht geradezu ins Gesicht sagen: dass man in der deutschen Rhythmik eine striktere Observanz einführen müsse, wenn sie irgend gegründet werden solle. Was er inzwischen äußerte, waren für mich sibyllinische Blätter. Wie ich mich an der Vorrede zu den „Georgiken“ abgequält habe, erinnere ich mich noch immer gerne, der redlichen Absicht wegen, aber nicht des daraus gewonnenen Vorteils.
In der Tat: was Johann Heinrich Voß in der Vorrede zu seiner Übersetzung von Vergils Georgica sagt zum Hexameter, ist oft etwas dunkel; dem heutigen Leser nicht weniger, als es das Goethe war. Aber einige bemerkenswerte Abschnitte sind doch drin – dieser etwa:
Mit der rhythmischen Periode hält häufig die Periode des Sinns gleichen Schritt. Aber es würde Einförmigkeit entstehen, wenn sie es immer täte. Oft sind die Glieder der einen nur Gelenke der anderen, und umgekehrt. Man nehme:
Jener sprachs; und verwirrt enteilte sie, Qualen erduldend.
Hier schließen die rhythmischen Glieder mit “verwirrt” und “erduldend”; die des Sinns mit “sprachs”, “enteilte sie” und “erduldend”. Man vernachlässige die rhythmische Teilung, und setze “angstvoll eilte sie”; die Periode des Sinns bleibt, wie sie war, aber der Vers ist zerstört.
Will sagen: Für gewöhnlich liegen die Vers-Einschnitte und die Satz-Enschnitte an der gleichen Stelle; das ist aber nicht notwendigerweise so, sie können auch auseinandertreten! Der gewählte Beispielvers hat zwei Satz-Einschnitte:
Jener sprachs; || und verwirrt enteilte sie, || Qualen erduldend.
Der Vers-Einschnitt aber, und das meint: die Zäsur des Hexameters, liegt an keiner dieser beiden Stellen, sondern in der Mitte des Verses:
Jener sprachs; und verwirrt || enteilte sie, Qualen erduldend.
Mit „angstvoll eilte sie“ sieht der Vers so aus:
Jener sprachs; und angstvoll eilte sie, Qualen erduldend.
Die Zäsur läge zwischen „angst-“ und „-voll“, aber da kann sie auf gar keinen Fall sich bemerkbar machen: „der Vers ist zerstört“.
Das finde ich aus zwei Gründen bemerkenswert.
Einmal durch die Art, wie Voß hier „Satz“ und „Vers“ als voneinander unabhängige und gleichberechtige Größen denkt;
Und zum anderen durch die Folgen, die sich daraus für den Vortrag ergeben – denn wenn der Verseinschnitt da und von den Satzeinschnitten verschieden ist, dann muss er im Vortrag ja auch hörbar gemacht werden? Und tatsächlich scheint mir der Vers am besten zu klingen, wenn er mit drei Einschnitten gelesen wird:
Jener sprachs; | und verwirrt | enteilte sie, | Qualen erduldend.
– Wobei der Verseinschnitt deutlich schwächer sein sollte als die Satzeinschnitte! Ein ganz kurzes Zögern und Absetzen, mehr nicht; eben deutlich genug, dass dem Ohr der Bau des Verses bewusst bleibt.
Alle, die prüfen möchten, wie geheimnisvoll Voß‘ Text wirklich klingt und wirkt – ich habe ihn ins „Hinterzimmer“ gestellt: Aus der Vorrede zur Georgica-Übersetzung