Erzählformen: Die alkäische Strophe (5)

Ich möchte noch einmal auf die Bestimmung der alkäischen Strophe eingehen, die Wolfgang Binder gegeben hat (nachzulesen in 2).

x X x X x  | X x x X x X

– Das Silbenbild der ersten beiden Verse. Binder beschreibt die Versbewegung als Welle: Ein Steigen in den ersten fünf Silben, dann ein schnelles Fallen, das am Versende aufgefangen wird. Der dritte und der vierte Vers zeigen nun zusammen die selbige Bewegung, nur in einer doppelt so breiten Welle – das sieht man gut, schreibt man beide als einen langen Vers:

x X x X x X x X x | X x x X x x X x X x

– Das „Steigen“ hat den doppelten Umfang, vergleichen mit den ersten beiden Versen: vier Hebungen statt zwei. Das „Fallen“ genauso, zwei Hebungen statt einer, zwei doppelte Senkungen statt einer; dann folgt ein nur leicht längerer Versschluss, der die fallende Bewegung auffängt und beruhigt.

Drei „Wellen“ also. Nun muss man die Strophe nicht wie Binder auffassen und nicht dieses Bild benutzen; aber wenn man sich darauf einlässt, ist der Zeilenumbruch zwischen drittem und viertem Vers nur für’s Auge da und nicht aus der inneren Notwendigkeit der Strophe; und dann müsste die der alkäischen wie allen antiken Strophen offenstehende Möglichkeit zum ausgedehnten Zeilensprung hier häufiger sein als etwa zwischen dem ersten und dem zweiten Vers?!

Binder schreibt über Hölderlin, als er seine Formbestimmung gibt, daher hier eine alkäische Ode Hölderlins mittlerer Länge, „Ganymed“:

 

Was schläfst du, Bergsohn, liegest in Unmut, schief,
Und frierst am kahlen Ufer, Geduldiger!
Denkst nicht der Gnade du, wenns an den
Tischen die Himmlischen sonst gedürstet?

Kennst drunten du vom Vater die Boten nicht,
Nicht in der Kluft der Lüfte geschärfter Spiel?
Trifft nicht das Wort dich, das voll alten
Geists ein gewanderter Mann dir sendet?

Schon tönets aber ihm in der Brust. Tief quillts,
Wie damals, als hoch oben im Fels er schlief,
Ihm auf. Im Zorne reinigt aber
Sich der Gefesselte nun, nun eilt er,

Der Linkische; der spottet der Schlacken nun,
Und nimmt und bricht und wirft die Zerbrochenen
Zorntrunken, spielend, dort und da zum
Schauenden Ufer, und bei des Fremdlings

Besondrer Stimme stehen die Herden auf,
Es regen sich die Wälder, es hört tief Land
Den Stromgeist fern, und schaudernd regt im
Nabel der Erde der Geist sich wieder.

Der Frühling kömmt. Und jedes, in seiner Art,
Blüht. Der ist aber ferne; nicht mehr dabei.
Irr ging er nun; denn allzugut sind
Genien; himmlisch Gespräch ist sein nun.

 

Zeilensprünge überall, am Ende jedes der vier Verse einer Strophe genauso wie zwischen einzelnen Strophen; aber wirklich sind die Sprünge, die Einschnitte nirgends heftiger als zwischen dem dritten und dem vierten Vers?!

Einmal werden Artikel und Substantiv getrennt, einmal Adjektiv und Substantiv, zweimal Präposition und Substantiv – und die beiden verbleibenden Sprünge sind kaum weniger heftig. Die Einschnitte zwischen erstem und zweitem Vers sind dagegen bei weitem nicht so stark!

Insofern scheint etwas dran zu sein an Binders Bild – die dritte, die doppelt so breite Welle füllt die beiden letzten Verse, und weil sie die gehörte, wahrgenommene EInheit ist, können am geschriebenen Übergang vom dritten in den vierten Vers, im Druckbild also, heftige Zeilensprünge stehen; denn in Bezug auf die eigentliche Bewegung geht die Bewegung hier nur vom Steigen ins Fallen über, setzt aber nicht neu an; sondern bleibt die dem Ohr schon aus den ersten beiden Versen bekannte Welle.

Von dieser Grundvorstellung aus weiterzudenken hat seinen Reiz; aber das verschiebe ich auf den nächsten Eintrag zur alkäischen Strophe.

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