Erzählformen: Die alkäische Strophe (7)

Das antike Vorbild der „deutschen alkäischen Strophe“ sieht im Silbenbild so aus:

v — v — v | — v v — v —
v — v — v | — v v — v —
v — v — v — v — v
— v v — v v — v — v

Wobei, wie immer in der Antike, nicht betonte und unbetonte Silben, sondern lange (—) und kurze (v) Silben betrachtet werden. Allerdings ist die Silbenverteilung damit noch nicht hinreichend beschrieben; denn an manchen Stellen im Vers konnten sowohl eine lange wie eine kurze Silbe stehen! Ich kennzeichne die entsprechenden Stellen durch ein „#“:

# — v — # | — v v — v #
# — v — # | — v v — v #
# — v — # — v — #
— v v — v v — v — #

– Wie man sieht,  weisen die ersten drei Verse je drei solche Stellen auf, der letzte Vers eine.

In der deutschen alkäischen Strophe ist die Möglichkeit zumeist unbeachtet geblieben, nur bei Verfassern, die sich die antike Strophe ausdrücklich zum Vorbild genommen haben, ist etwas davon zu spüren. Zu diesen gehört auch Friedrich Gottlieb Klopstock, der die Strophe in die deutsche Dichtung eingeführt hat und daher ohnehin noch stark am Vorbild entlangdenkt!

Betrachtet man die ersten beiden Verse, so wird klar, dass, setzt man das antike Vorbild um in Bezug auf die letzte Silbe, diese in der deutschen Strophe betont oder unbetont sein kann; ist sie unbetont, schließt der Vers mit zwei unbetonten Silben. Das gibt es bei Klopstock durchaus – eine Strophe aus „der Abschied“:

 

Die heilge Tugend, Gottes erhabenste,
Hier nicht erkannte Schöpfung, und selige,
Von ihrem Jubel volle Freuden
Müssen dein jugendlich Haupt umschweben,

 

Hier sind sowohl im ersten als auch im zweiten Vers die Schluss-Silben unbetont, das Silbenbild sieht also so aus (die beiden abweichenden Silben sind rot):

x X x X x | X x x X x x
x X x X x | X x x X x x
x X x X x X x X x
X x x X x x X x X x

Und wenn sich auch im Laufe der Jahre die betonte Silbe am Ende der ersten beiden Verse durchgesetzt hat (zwei unbetonte Silben am Versende klingen im Deutschen etwas eigen), ist die unbetonte Schluss-Silbe nie ganz außer Gebrauch gekommen. Fünfzig Jahre nach Klopstocks ersten Versuchen schreibt zum Beispiel Friedrich Hölderlin diese beiden Strophen, sie sind der Schluss von „Der Prinzessin Amalie von Dessau“:

 

Und wie auf dunkler Wolke der schweigende,
Der schöne Bogen blühet, ein Zeichen ist
Er künftger Zeit, ein Angedenken
Seliger Tage, die einst gewesen,

So ist dein Leben, heilige Fremdlingin!
Wenn du Vergangnes über Italiens
Zerbrochnen Säulen, wenn du neues
Grünen aus stürmischer Zeit betrachtest.

 

– In beiden Strophen sind die Ausgänge der ersten beiden Verse mit sehr schwachen Silben besetzt?! Das „ist“ könnte man sicher betonen, aber man kann es auch unbetont lesen; „-de“ und „-gin“ zu betonen, klänge schon einigermaßen seltsam; und spätestens bei „-ens“ geht es gar nicht mehr!

Wie man sich selbst verhält in diesem Fall, muss jeder Verfasser selbst wissen; man kann die unbetonte Silbe am Schluss vollständig missachten, man kann sie dann und wann erlauben, man kann sie häufig verwenden …

Die Schluss-Silben der ersten beiden Verse sind also in der gewöhnlichen deutschen alkäischen Strophe betont, können aber unter dem Einfluss des antiken Vorbilds manchmal auch unbetont sein; die anderen oben mit „#“ gekennzeichneten Silben sind in der deutschen alkäischen Strophe dagegen unbetont, können sich aber unter dem Einfluss des antiken Vorbilds manchmal „auf die Betonung hin ausrichten“ (um es vorsichtig auszudrücken). Welche Auswirkungen das auf die Strophe hat, und welche Wirkungen damit erzielt werden können: weiß der nächste Eintrag zur alkäischen Strophe.

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