Erzählverse: Der Hexameter (79)

Eduard Mörikes „Im Weinberg“

„Im Weinberg“ ist ein kürzeres Hexameter-Stück; tatsächlich ist es mit 25 Hexametern sogar so kurz, dass ich es hier vollständig vorstellen möchte:

 

Droben im Weinberg, unter dem blühenden Kirschbaum saß ich
Heut, einsam in Gedanken vertieft; es ruhte das Neue
Testament halboffen mir zwischen den Fingern im Schoße,
Klein und zierlich gebunden: (es kam vom treuesten Herzen –
Ach! du ruhest nun auch, mir unvergessen, im Grabe!)
Lang so saß ich und blickte nicht auf; mit einem da lässt sich
Mir ein Schmetterling nieder aufs Buch, er hebet und senket
Dunkele Flügel mit schillerndem Blau, er dreht sich und wandelt
Hin und her auf dem Rande. Was suchst du, reizender Sylphe?
Lockte die purpurne Decke dich an, der glänzende Goldschnitt?
Sahst du, getäuscht, im Büchlein die herrlichste Wunderblume?
Oder zogen geheim dich himmlische Kräfte hernieder
Des lebendigen Worts? Ich muss so glauben, denn immer
Weilest du noch, wie gebannt, und scheinst wie trunken, ich staune!
Aber von nun an bist du auf alle Tage gesegnet!
Unverletzlich dein Leib, und es altern dir nimmer die Schwingen.
Ja, wohin du künftig die zarten Füße wirst setzen,
Tauet Segen von dir. Jetzt eile hinunter zum Garten,
Welchen das beste der Mädchen besucht am frühesten Morgen,
Eile zur Lilie du – alsbald wird die Knospe sich öffnen
Unter dir; dann küsse sie tief in den Busen: von Stund an
Göttlich befruchtet, atmet sie Geist und himmlisches Leben.
Wenn die Gute nun kommt, vor den hohen Stengel getreten,
Steht sie befangen, entzückt von paradiesischer Nähe,
Ahnungsvoll in den Kelch die liebliche Seele versenkend.

 

Ich mag’s. Inhaltlich tut man sich heute etwas schwer, aber die Art, wie Mörike die „Handlung“ führt und zusammenhält, gefällt mir einfach. Und sein Vers sowieso!

Obwohl, die drei Anfangsverse finde ich ein wenig seltsam?! Wenn ein Dichter ein Gedicht in einem festen Versmaß schreibt, versucht er doch eigentlich erst, mit ein, zwei „üblichen“ Versen dem Leser / Hörer zu vermitteln, wo er sich gerade befindet; und dann werden die Möglichkeiten und Ausnahmen zwecks Schaffung von Vielfalt bemüht. Mörike geht anders vor – weil ihm die Leser nicht so wichtig waren? Weil er davon ausging, dass der Hexameter sowieso den Lesern, auf die es ankam, in Fleisch und Blut übergegangen war? Ich vermute letzteres – zu seiner Zeit war der deutsche Hexameter immerhin schon über 100 Jahre in Gebrauch!

Droben im / Weinberg, || unter dem / blühenden / Kirschbaum / saß ich

Gleich im ersten Vers setzt er eine sehr frühe Zäsur hinter der zweiten Einheit, und am Ende macht er von der „metrischen Lizenz“ Gebrauch, das „X x x“ der fünften Einheit durch ein „X x“ zu ersetzen. Wobei „Kirsch-baum“ natürlich, durch die antike Brille betrachtet, durchaus auch als „— —“ durchginge: als Spondeus. Im Deutschen ist’s eben eher eine sehr schwere zweisilbige Einheit, die die dreisilbige Einheit gut „vertritt“ … In den nächsten beiden Versen stehen etwas ungewöhnliche zweisilbige Einheiten am Versanfang:

Heut, ein- / sam in Ge- / danken ver- / tieft; || es / ruhte das / Neue
Testa- / ment halb- / offen || mir / zwischen den / Fingern im / Schoße,

Das „ein-“ zu drücken und das „-sam“ zu heben (auf ein Niveau, nicht: aneinander vorbei) ist ein „geschleifter Spondeus“, wie sie Johann Heinrich Voss so geliebt hat? Genau wie „ment halb of-“ in der Folgezeile. Da fällt das betonte „Tes-“ am Versbeginn gar nicht mehr auf …

Aber wirklich fest legt sich Mörike nie:

Mir ein / Schmetterling / nieder aufs / Buch, || er / hebet und / senket

Hier „leistet“ er sich, nach den obigen Fällen von „Schwere“, einen äußerst schmalbrüstigen Verseingang, Pronomen und Artikel: „Mir ein“. Aber trotzdem passt immer alles zusammen, weil Mörike einfach ein wunderbares Gespür für rhythmische Wirkungen hatte! Weswegen er sich die Meinung leisten konnte (in einem Brief an seinen Freund Hartlaub): Man kommt zuletzt am weitesten, wenn man in allen Fällen sein eigenes Gehör befragt. Wogegen auch heute nichts zu sagen ist – falls man denn Mörike heißt.

 

Unverletzlich dein Leib, und es altern dir nimmer die Schwingen.

 

Der Vers fällt mir häufiger ein, wenn ich draußen einen Schmetterling sehe. Aber jetzt ist es November …

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