Erzählformen: Das Madrigal (12)

Gotthold Ephraim Lessing ist 1781 gestorben, und seitdem ist viel Zeit vergangen; trotzdem wirkt sein Madrigal „Die eheliche Liebe“ heute noch so frisch wie zu seinen Lebzeiten! Und das liegt gewiss nicht an dem verhandelten „Was“; sondern eindeutig am „Wie“. Der Text:

 

Klorinde starb: sechs Wochen drauf
Gab auch ihr Mann das Leben auf,
Und seine Seele nahm aus diesem Weltgetümmel
Den pfeilgeraden Weg zum Himmel.
„Herr Petrus!“ rief er, „aufgemacht!“ —
„Wer da?“ — „Ein wack’rer Christ. “ —
„Was für ein wack’rer Christ? “
„Der manche Nacht,
Seitdem die Schwindsucht ihn aufs Krankenbette brachte,
In Furcht, Gebet und Zittern wachte.
Macht bald!“—  Das Tor wird aufgetan.
„Ha, ha! Klorindens Mann!
Mein Freund“, spricht Petrus, „nur herein;
Noch wird bei Eurer Frau ein Plätzchen ledig sein.“
„Was? Meine Frau im Himmel? Wie?
Klorinden habt ihr eingenommen?
Lebt wohl! Habt Dank für Eure Müh‘!
Ich will schon sonstwo unterkommen.“

 

Die ersten beiden Verse könnten auch einen Verspaar-Text eröffnen; glatte, gereimte, sich schön ergänzende iambische Vierheber. Danach  folgt aber schon ein Alexandriner, also ein Sechsheber, und dann wechseln in bunter Folge die Verslänge und die Reimanordnung, ganz so, wie es im Madrigal üblich ist, und in feiner Übereinstimmung mit dem Inhalt – das Gespräch zwischen „Mann“ und Petrus wirkt so sehr lebendig und spannungsvoll, ohne dass der Eindruck, Verse zu lesen, irgendwie geschwächt würde?!

Der manche Nacht,
Seitdem die Schwindsucht ihn aufs Krankenbette brachte,

– Der heftigste Wechsel, ziemlich in der Mitte des Textes; aus einem viersilbigen Zweiheber springt Lessing in einen dreizehnsilbigen Sechsheber! Die letzten Vier Verse landen dann aber wieder da, wo alles seinen Anfang genommen hat: Beim iambischen Vierheber, nur dass hier nicht mehr paargereimt wird, sondern kreuzgereimt.

EIn Text, den man unbedingt laut lesen sollte; erst dann, über das Ohr! wird verständlich, wie geschickt Lessing hier seine Verse gebaut hat.

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