Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (1)

Ich fände es reizvoll, wenn der Verserzähler neben der „antiken“ alkäischen Strophe auch eine Reimstrophe etwas ausführlicher vorstellt; daher diese neue Kategorie.

Augeschaut habe ich mir dafür die „Brunnen-Strophe“ – wobei ich mir diesen Namen einfach selbst ausgedacht habe; es ist halt die Strophe, die Wilhelm Müller für sein allüberall bekanntes „Am Brunnen vor dem Tore“ benutzt hat – dessen erste Strophe auch Hans Joachim Frank in seinem „Handbuch der deutschen Strophenformen“ als Beispiel verwendet.

Manchmal findet man die Form auch unter der Bezeichnung „Volksliedstrophe“, aber da das mal so, mal so gemacht wird und Verwechslungen und Verwirrungen vorbestimmt sind, scheint mir das nicht glücklich gewählt …

Einerlei. Die Form ist diese:

x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b

– Sehr vertraut und wahrscheinlich jedem bekannt?! Trotzdem denke ich, dass diese „Brunnen-Strophe“ eine wirklich trickreiche kleine Form ist, in der viel mehr steckt, als auf den ersten Blick vermutet wird! Auch ist sie Grundlage für viele andere Strophenformen, die ihrerseits wieder ganz eigene Reize haben. Für mich wurde die Achtung vor der Form jedenfalls immer größer, je mehr ich über sie in Erfahrung brachte!

Als erstes Beispiel füge ich nicht den Müllerschen „Lindenbaum“ an, sondern, es ist ja schließlich Advent, „Es kommt ein Schiff geladen“, ein altes Lied, dessen Text aus dem 14. Jahrhundert stammt:

 

Es kommt ein Schiff, geladen
Bis an sein’ höchsten Bord,
Trägt Gottes Sohn voll Gnaden,
Des Vaters ewigs Wort.

Das Schiff geht still im Triebe,
Es trägt ein teure Last;
Das Segel ist die Liebe,
Der Heilig Geist der Mast.

Der Anker haft’ auf Erden,
Da ist das Schiff am Land.
Das Wort will Fleisch uns werden,
Der Sohn ist uns gesandt.

Zu Bethlehem geboren
Im Stall ein Kindelein,
Gibt sich für uns verloren;
Gelobet muss es sein.

Und wer dies Kind mit Freuden
Umfangen, küssen will,
Muss vorher mit ihm leiden
Groß Pein und Marter viel,

Danach mit ihm auch sterben
Und geistlich auferstehn,
Das ewig Leben erben,
Wie an ihm ist geschehn.

 

Die Melodie des Liedes ist vielleicht nicht ganz so bekannt wie „Am Brunnen vor dem Tore“, aber sicher auch vielen im Ohr?! Wer mag, kann aber auch einmal hier hereinhören – oder in eine der anderen Fassungen, die allerdings oft nicht nur kitschig, sondern unerträglich kitschig sind …

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