Die Grundform der Brunnen-Strophe ist, auf die reine Silbenanzahl bezogen, diese:
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X
x X / x X / x X / x
x X / x X / x X
– Und so wird sie in der Tat auch oft genug verwirklicht. Aber es ist eben auch eine Volksliedstrophe, und als solche neigt sie dazu, sich zahlreiche Freiheiten zu gestatten: Doppelt, ja dreifach besetzte Senkungen, versetzte Betonungen – die ganze Liste.
Das macht allen, die Ordnung in die verschiedenen Strophenarten bringen wollen, die Arbeit nicht leicht! Zum Beispiel diese Strophe von Heinrich Heine, ein Gedichtbeginn:
Der Abend kommt gezogen,
Der Nebel bedeckt die See;
Geheimnisvoll rauschen die Wogen,
Da steigt es weiß in die Höh.
Die Silbenverteilung sieht so aus:
x X / x X / x X / x
x X / x x X / x X
x X / x x X / x x X / x
x X / x X / x x X
– Ist das jetzt noch ein Abwandlung des oben gezeigten Silbenbilds der Brunnen-Strophe, oder schon eine Abwandlung dieses Silbenbilds …
x X / x x X / x x X / x
x X / x x X / x x X
x X / x x X / x x X / x
x X / x x X / x x X
… bei dem die beiden Innensenkungen durchgängig mit je zwei unbetonten Silben besetzt sind; einer eigenständigen und auch vielgenutzten Strophe?
Unmöglich zu sagen, Heines Strophe hält genau die Mitte: Bei einem Vers sind die beiden Innensenkungen einsilbig besetzt, bei einem Vers zweisilbig; bei einem Vers ist die erste Innensenkung einsilbig, die zweite zweisilbig besetzt, und beim verbleibenden Vers ist es genau umgekehrt!
Nun ist es nicht entscheidend wichtig, eine Schublade für jede je geschriebene Strophe zu haben; aber es zeigt sich schon, warum diese besondere Strophe so schwer zu packen ist, und warum „Volksliedstrophe“ ein Begriff ist, der oft aus Verlegenheit gewählt und benutzt wird.