Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (4)

Die Brunnen-Strophe ist allgegenwärtig; was oft dazu führt, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt, erst recht, wenn anderes die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ein Beispiel ist Christian Morgensterns überaus berühmtes „Gruselett“:

 

Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz.

 

Da ist das Staunen und die Verwunderung über die Dinge, mit denen Morgenstern die Form füllt, so groß, dass die Form an sich ganz zurücktritt, und das, obwohl doch die Hebungen sehr deutlich und mit wenig Abwechslung besetzt sind! Schaut man sich ein wenig im Netz um, findet man diese Verse zum Erklären und Veranschaulichen von allem möglichen verwendet, nie aber dem der Form …

(Verwunderlich und ein wenig erschreckend dabei: wie oft das Gedicht Kindern in der Grundschule oder in fünften Klassen vorgesetzt wird – ist das wirklich sinnvoll, und wenn ja: auf welche Weise soll es geschehen? Bei Literaturcafe.de findet sich ein Beitrag, der „am Beispiel“ dieser Frage – vielleicht ein wenig zu empört – nachgeht …)

Spannend noch der Gedanke: Scheint die Form stärker durch, wenn das Gedicht in einer anderen Sprache erscheint? Max E. Knight hat in seinem 1964 bei „University of California Press“ erschienenen Auswahlband „The Gallows Songs“ das Gruselett so ins Englische übersetzt:

 

Scariboo

The Winglewangle phlutters
through widowadowood,
the crimson Fingoor splutters
and scary screaks the Scrood.

 

Erstaunlich, wie die Übersetzung eines solchen Textes überhaupt gelingen kann?! Aber hier steht sie, und ihre Wirkung kann nun jeder selbst beurteilen …

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