Die Brunnen-Strophe ist auch ein gern genutzter Baustein beim Zusammenfügen umfangreicherer Strophen. Das lässt sich, passend zur Weihnacht, zum Beispiel an diesem alten und bekannten Weihnachtslied zeigen:
Es ist ein Ros‘ entsprungen
Aus einer Wurzel zart,
Wie uns die Alten sungen,
Von Jesse kam die Art
Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter,
Wohl zu der halben Nacht.
– Denn die ersten vier Verse sind ja genau die Brunnen-Strophe! Allgemein verwirklicht diese siebenversige Strophe den alten, dreiteiligen Lied-Aufbau:
Es gibt einen „Aufgesang“, der aus zwei gleichen Teilen besteht („Stollen“); das sind hier „Es ist ein Ros‘ entsprungen / Aus einer Wurzel zart“, erster Stollen; und dann „Wie und die Alten sungen, / Von Jesse kam die Art“, zweiter Stollen. Soll heißen: Die Brunnen-Strophe bildet den Aufgesang!
Daran schließt sich der „Abgesang“ an, der sich in der Länge vom Aufgesang unterscheidet: er ist meist länger als ein Stollen, aber kürzer als der gesamte Aufgesang. Also hier mit drei Versen länger als ein Stollen mit zwei Versen, aber kürzer als der gesamte Aufgesang mit seinen vier Versen!
Auch in Hinblick auf den Reim und das Metrum unterscheidet sich der Abgesang: Hier führt er einen neuen Reim ein, während der sechste Vers reimlos bleibt – eine reizvolle“Waise“.
Insgesamt sieht das Silbenbild dieser Strophe also so aus:
x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X / x a
x X / x X / x X b
x X / x X / x X c
x X / x X / x X / x –
x X / x X / x X c
Eine sehr ausgeglichene und so angenehm zu schreibende wie zu hörende Strophe! Überhaupt ist der beschriebene Grundaufbau eines dreiteiligen Liedes wunderbar ausgewogen – wer einmal selbst eine Strophe entwerfen möchte, hat hier einen Rahmen, der viele eigene Gedanken zulässt und doch eine sichere Grundlage ist.
Und wer weiß, vielleicht lässt sich dabei ja auch die Brunnen-Strophe verbauen? Sie ist jedenfalls Ausgangspunkt sehr vieler längerer Strophen!