Erzählverse: Der trochäische Vierheber (11)

In seinem „Märchen vom Steinbild“ benutzt Gerhart Hauptmann den Vierheber gänzlich unbefangen – er lässt ihn sozusagen machen, gibt den „Formungstendenzen“, die dem Vers innewohnen, einfach nach und sucht sie manchmal sogar zu verstärken. Ich stelle hier den Anfang vor, den ich Hauptmanns 1964 bei Propyläen erschienenen „Sämtlichen Werken“ entnommen habe; Die Verse finden sich im vierten Band auf den Seiten 103-105.

Will erzählen, will versuchen
einen kleinen Sang zu singen,
singen einer Schar von Kindern.
Hört mich an, die ihr euch Kinder
fühlet in der tiefsten Seele,                                           5
lauschet still und unterbrecht mich,
wenn zu trüb mein Liedlein schleichet.
Ist ein alt bekanntes Liedlein,
Und „Es war einmal“ beginnt es.

Ein geradezu klassischer Einstieg – die Hinwendung ans Publikum, das „Kleinmachen“; aber eben auch der Schritt von „Erzählen“ zu „Singen“, das Einfordern des „Lauschens“!

Formal wird schon klar, was Hörer und Leser erwartet: Parallelismen und Wiederholungen, wie sie für Vierheber-Texte in wechselndem Ausmaß kennzeichnend sind, und Verkürzungen am Versbeginn: „Will erzählen“, statt „Ich will erzählen“, „Ist ein“ statt „Es ist ein“. Da wundert dann auch nicht, dass die eigentliche Geschichte eben nicht, wie gerade erst angekündigt, mit „Es war einmal“ anhebt:

War einmal ein reicher Schlossherr,                  10
hatte viele große Schlösser,
lebte lang und lebte glücklich,
starb und ward begraben. Eilig
kamen Brüder, Söhne, Enkel
zu empfangen, zu beerben,                                  15
und empfingen und beerbten.
Einer kam herbeigeritten
hoch zu Ross, ein schmucker Knabe,
einer stieg vom Ross und weinte,
weinte, bis der neue Erbe                                     20
ihn zum Walde gehen hieß;
hin von seines Vaters Leiche,
hin von seines Vaters Hause;
und der arme Knabe ging.
Sprach er drauf: „Wo ist mein Erbe,                 25
hat mein Vater mich alleine
ganz vergessen, seiner Söhne
liebsten, wie er oft mich nannte?“ –
Trat zu ihm ein alter Schenke,
heißt ihn auf sein Rösslein steigen,                 30
ritt mit ihm durch Wald und Gründe,
Wald und Gründ‘ und Bach und Berge,
hielt an eines prächt’gen Schlosses
goldner Pforte, hielt und pochte. –
„Dieses“, sprach er, „hat dein alter                  35
treuer Vater dir vererbt,
dies, das schönste seiner Schlösser,
dies, das höchste seiner Güter,
dies, die Krone seines Lebens,
die du niemals darfst veräußern.                    40
Als er fühlte, das er sterbe,
hieß er dich ans Lager rufen,
und es flogen tausend Boten,
dich zu suchen, in die Fremde.
Aber kaum die halbe Strecke                           45
schlugen ihrer Pferde Hufe,
als dein alter Vater bleicher
ward und schon des kalten Todes
Schritt vernahm mit Geistersinnen.
Und er sprach zu mir von Dingen,                 50
die ich vorher nie verstanden,
hieß zuletzt mich, dir zu zeigen,
dir zu geben, was du siehst.
Als er starb, da lag ein Wort ihm
bebend noch auf bleichen Lippen,              55
und ich weiß, es war das deine,
doch der Tod hat es entwandt.“
Heilger Schauer fasst den Jüngling,
zagend sieht er, leise zagend,
seines Schlosses Mauern blinken,              60
schaut die lange Front hinunter,
wie sie kahl sich dehnt und gleißend,
marmorweiß die Sonne spiegelt,
hehr zugleich und graunerweckend
wie ein Wunder. Auf dem weiten               65
Vorplatz stehn in ernster Reihe,
ewig schwankend, düstre Pappeln,
ragend über des Gewäldes
rings umschließendes Gewand.
Und die Pappeln reden leise,                     70
reden hoch in stolzer Wipfel
Einsamkeit Geheimnisvolles.

V10-13: „War“, „hatte“, „lebte“, „starb“ – Hauptmann verliert keine Zeit und setzt sofort den Ton. Das „kamen“ des Folgeverses ist zwar Teil eines „normalen“ Satzes, fügt sich aber durch den Zeilensprung auch noch in die Reihe?

V17, V19: „Einer“ – dass hier derselbe gemeint ist, erschließt sich vielleicht nicht auf den ersten Blick. Oder wirken die Wiederholungsmuster hier doch schon so stark … ?!

V22, V23: Das „hin“ finde ich seltsam. Geht das so?

V29-33: „Trat“, „heißt“, „ritt“ … „hielt“ – man hat sich schon daran gewöhnt an dieser Stelle, zu diesem Zeitpunkt?!

V31, V32: Das finde ich bemerkenswert; Hauptmann versinnlicht durch die Wiederholung, so weit es irgend geht?! Er hätte ja auch platzsparender schreiben können: „ritt mit ihm lange (oder: weit) durch Wald und Gründe“! Aber nein: „ritt mit ihm durch Wald und Gründe, / Wald und Gründ‘ und Bach und Berge.“

V45, V46: Wieder sehr anschaulich – nicht: „Sie waren kaum die halbe Strecke weit gekommen“, sondern: „Aber kaum die halbe Strecke / schlugen ihrer Pferde Hufe,“

V54-57: Das ist so eine der Stellen, an denen ich ins Grübeln komme, wie Hauptmann seine Klangwirkungen erzielt … Wenn man sich für diese vier Verse mal die betonten Silben anschaut, die, die man „wirklich“ hört:

Als er starb, da lag ein Wort ihm
bebend noch auf bleichen Lippen,
und ich weiß, es war das deine,
doch der Tod hat es entwandt.“

Das wäre die Verteilung für die Vokale, die für die Konsonanten:

Als er starb, da lag ein Wort ihm
bebend noch auf bleichen Lippen,
und ich weiß, es war das deine,
doch der Tod hat es entwandt.“

Tja, Absicht oder nicht … Aber da die beiden Verteilungen ja auch ineinandergreifen, denke ich auf jeden Fall, sie gestalten den Text mit!

V70-72: Für mich, der ich seit Jahrzehnten in der Nachbarschaft von sehr vielen Pappeln lebe, sehr sehr anschaulich …

Insgesamt, wie am Anfang gesagt: Hauptmann lässt zu, dass der Vers ein Übergewicht erlangt über den Satz. Dadurch wird die Sprache des Textes erst einmal fremd, aber auf der anderen Seite auch sehr wiedererkennbar und auf eigene Art anziehend. Also, wie immer – die Möglichkeit, Leser zu gewinnen, und gleichzeitig die Möglichkeit, Leser zu verlieren … Mich hat Hauptmann gewonnen, eindeutig; die Anschaulichkeit seiner Verse und die Art, wie sie sich einprägen durch die ständigen Wiederholungen von Satzstrukturen und Wörtern – das alles beeindruckt mich sehr.

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