Peter Dronke: Die Lyrik des Mittelalters. Eine Einführung.
Nichts fällt vom Himmel, die Dichtung nicht und die Gedichte auch nicht; sie haben eine Geschichte. Sich mit der zu beschäftigen lohnt sich, und das knapp 300 Seiten starke Werk von Dronke ist ein guter Weg, sich mit ihrem mittelalterlichen Teil bekannt zu machen. Dabei bleibt Dronke immer dem einzelnen Beispiel verpflichtet, ohne jedoch das große Ganze, für das er sich in ganz Europa umschaut, aus den Augen zu verlieren; und hat darüber hinaus noch Zeit für die eine oder andere Kleinigkeit, die nicht unbedingt sein müsste … Seite 17:
Einmal zu Weihnachten, um 1066 herum, versuchten Erzbischof Adalbert von Hamburg und sein Klerus, die ausgelassenen Trinklieder, die der Sachsenherzog Magnus und seine Gesellschaft „in ihre Becher grölten“ (in poculis ulularent), zu übertönen, indem sie antiphonisch dagegenan psalmodierten. Leider konnten der Herzog und seine Leute durchaus ihre Stellung halten, und Adalbert „schloss sich in seinen Andachtsraum ein und weinte bitterlich“.
Der Arme.
Das alles zusammen ergibt jedenfalls eine Menge an nachdenkenswertem und hilfreichem Stoff. Auf Seite 118 stellt Dronke zum Beispiel des Kürenbergers „Ich zoch mir einen valken …“ vor, das jeder kennt, der schon mal mittelalterliche Texte gelesen hat. Deutlich unbekannter dürfte ein serbisches Volkslied sein, das gleich darauf zu Vergleichszwecken herangezogen wird (S. 119):
Der Falke sitzt auf der Stadt Saloniki,
gelb sind seine Füße bis zum Gelenk,
golden seine Flügel bis zur Schulter,
blutig sein Schnabel bis zu den Augen.
Ihn fragen die Mädchen von Saloniki:
„O so Gott dir, grau-grüner Falke,
wer hat die die Füße gelb gemacht?
Wer hat dir die Flügel vergoldet?
Wer hat dir den Schnabel blutig gemacht?“ –
„Lasst mich gehen, ihr Mädchen von Saloniki!
Gedient habe ich einem guten Herren.
Er hatte drei Töchter:
eine hat mir die Füße gelb gemacht,
die zweite hat mir die Flügel vergoldet,
aber die dritte hat mir den Schnabel blutig gemacht.“
Aber auch das: ein bedenkenswerter Text.
Erschienen ist der Band 1973 bei Beck!