Erzählverse: Der Blankvers (56)

Wie ein Vers klingt; das hängt auch immer von dem Zweck ab, zu dem er eingesetzt wird. Man vergleiche zum Beispiel die erzählenden Blankverse Gottfried Kellers aus (53) mit den folgenden desselben Verfassers, entnommen dem „Prolog zur Schillerfeier in Bern 1859“.

 

Zur höchsten Freiheit führt allein die Schönheit;

 

heißt es da zum Beispiel höchst sentenzenhaft; und im Anschluss, einige Verse weiter:

 

Sie klärt des Priesters Wort zur reinen Liebe,
Sie hellt dem Ratsmann trefflich den Verstand,
Sie macht des Kriegers Waffen scharf und glänzend;
Dem Werkmann adelt sie die harte Arbeit,
Erhebt den Kaufmann über die Gefahr,
Sein Herz in seinen Schätzen zu begraben,
Und schützt, wie vor dem Rost des rohen Geizes,
Vor weichlicher Entnervung seinen Sinn;
Und selbst der Leidenschaft, die nimmer stirbt,
Nimmt sie das Gift, das zum Verderben führt.
Um alle windet sie ein Zauberband,
Das gleich uns macht im edlen Sinn des Wortes
Wertvoll und fähig zu der Freiheit Zwecken.

 

Das klingt reichlich hochtrabend, aber es klingt nicht falsch; nicht im Zusammenhang einer Schillerfeier des 19. Jahrhunderts … Schiller! Wieder etwas weiter:

 

Die Schönheit ist’s, die Friedrich Schiller lehrt
Und die mit eig’nen Tagen er gelebt,
Die jugendlich, ein schäumender Alpenstrom,
Die erste Kraft in jähem Felssprung übt,
Dann aber sich vertieft im klaren See
Und auferstehend aus der Purpurnacht
Dem Meer der Ewigkeit und der Vollendung
Kraftvoll mit breiter Flut entgegenzieht!

Ist uns ein Stern und Führer nun vonnöten,
Des Schönen Schule stattlich aufzubau’n:
Er ist der Mann!

 

Laut gelesen offenbaren diese Verse einen großen Schwung!?

Ein Preislied wie dieses zu schreiben: ist keine einfache Sache. Aber der Versuch ist allemal lohnend, denn da liegen Ausdrucksmöglichkeiten verborgen, die sonst nirgendswo zu finden sind …

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