Erzählverse: Der iambische Vierheber (4)

Grablied

Weh dir! dass du gestorben bist.
Du wirst nicht mehr Auroren sehn,
Wenn sie vom Morgenhimmel blickt
In roter Tracht, mit güldnem Haar;
Und die betauten Wiesen nicht,
Auch nicht im melanchol’schen Hain
Die Sonn‘ im Spiegel grüner Flut.
Der Veilchen Duft wird dich nicht mehr
Erfreun, und das Gemurmel nicht
Des Bachs, der Rosen-Büsche tränkt,
Auf dem vor Zephirs sanftem Hauch
Die kleinen krausen Wellen fliehn.
Auch wird dich Philomele nicht
Mehr rühren durch der Töne Macht,
Auch meines Krausens Laute nicht,
Die Philomelen ähnlich seufzt.

Allein du wirst auch nicht mehr sehn,
Dass sich der Tugendhafte quält,
Sich seiner Blöße schämt und darbt
Und seine Lebenszeit verweint;
Indessen dass in Seid‘ und Gold
Der Bösewicht stolziert und lacht.
Du wirst nicht sehn, dass ein Tyrann
Die Ferse freigebornem Volk
In den gebognen Nacken setzt,
Das ihm Tribut und Steu’r bezahlt,
Nicht für den Schutz, nein, für die Luft.
Kein Narr, kein Höfling wird dich mehr
Mit dummer Falschheit peinigen,
Und keine Rachsucht sieht auf dich
Mit scheelen Blicken eines Wolfs.
Nicht Ungewitter, Pestilenz
Und Erderschütterung und Krieg
Erschreckt dich mehr. Der Erde Punkt
(Samt Pestilenz und Krieg und Not)
Flieht unter deinen Füßen fort,
In Dunst und Blitz gewickelt. Sturm
Und Donner ruft weit unter dir,
Und Ruh‘ und Freude labt dein Herz
In Gegenden voll Heiterkeit.
Wohl dir, dass du gestorben bist!

 

Ewald von Kleist zeigt hier, aus wie wenig sich Dichtung machen lässt: Ein einfaches Gegeneinander, das in seinen beiden Teilen fast ausschließlich aufzählend gestaltet wird, wobei besonders der erste Teil eigentlich nur aus lyrischen Versatzstücken besteht; ein leicht herausgehobener Startpunkt als erster Vers, die gegenteilige Aussage als  leicht herausgehobener Schlusspunkt; und fertig! Das ist sicher keine große Dichtung; aber auch keinesfalls ein schlechtes Gedicht.

Kleists Blankvers-Texte achten oft gar nicht auf die Einheit des Verses. Hier, im kürzeren Vierheber, ist es nicht ganz so schlimm – der Vers bleibt erkennbar, und es gibt nur wenige harte Zeilensprüge, und die meist noch da, wo sie auch Wirkung haben („Sturm / Und Donner“)! Dadurch trägt der gereihte iambische Vierheber sicher auch bei zum zwanglosen Eindruck des Gedichts, das dabei aber eben doch auch gestaltet wirkt?!

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