Lothar Schwab: Vom Sünder zum Schelmen. Goethes Bearbeitung des Reineke Fuchs.
Erschienen 1971 im Athenäum Verlag, vergleicht dieser Band Goethes Hexameter-Fassung des Stoffes mit der Reimvers-Fassung seiner niederdeutschen Vorlage. Das ist sehr lesenswert! Was die niederdeutsche Fassung wollte, und mit welchen Mitteln sie es erreicht hat; und was Goethe wollte, und wie er es erreicht hat, ohne am Stoff, am Erzählten mehr als unwesentliche Änderungen vorzunehmen – das im einzelnen vorgeführt zu bekommen, ist sehr lehrreich. Und manchmal auch sehr in die Einzelheiten gehend, so etwa auf S. 122 bei der Besprechung des Anfangs:
06 Nobel, der König, versammelt den Hof; und seine Vasallen
07 Eilen gerufen herbei mit großem Gepränge; da kommen
08 Viele stolze Gesellen von allen Seiten und Enden,
09 Lütke, der Kranich, und Markart, der Häher, und alle die Besten.
10 Denn der König gedenkt mit allen seinen Baronen
11 Hof zu halten in Feier und Pracht; er lässt sie berufen
12 Alle miteinander, so gut die Großen als Kleinen.
13 Niemand sollte fehlen! und dennoch fehlte der Eine,
14 Reineke Fuchs, der Schelm! der viel begangenen Frevels
15 Halben des Hofs sich enthielt. So scheuet das böse Gewissen
16 Licht und Tag, es scheute der Fuchs die versammelten Herren.
17 Alle hatten zu klagen, er hatte sie alle beleidigt,
18 Und nur Grimbart, den Dachs, den Sohn des Bruders, verschont‘ er.
Zum farbig gekennzeichneten Satz schreibt Schwab:
„Hier stimmen die Bewegungen der Versform mit dem gestischen Gehalt des Textes völlig überein. Mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln deutet der Erzähler auf den Fuchs: Nicht nur, dass sich im Wortlaut die Namen häufen, mit denen er – gleich am Anfang des Epos – den Feind der Ordnung einkreist (‚der Eine‘, ‚Reineke Fuchs‘, ‚Schelm‘), sondern auch die Wiederholungen des schneidend-hellen Diphthongs -ei- kurz hintereinander, und zwar an so exponierten Stellen wie am Versende und am Anfang des folgenden Verses (‚Eine‘, ‚Reineke‘), verstärkt musikalisch den Gestus des Hindeutens. Diesem Zweck dient auch die Anordnung der einsilbigen Senkung ‚der‘ in Vers 14, die das wieder auflebende daktylische Fließen noch einmal staut, das schließlich in der männlichen Zäsur (Penthemimeres) hinter ‚Schelm‘ für einen Augenblick zum Stillstand kommt, eben genau an der Stelle, an welcher die den Fuchs am genauesten charakterisierende Bezeichnung gefallen ist.
In den folgenden Hexametern bis zum Absatz nach Vers 18 häufen sich wieder die Daktylen. Liest man die ersten 18 Verse im Zusammenhang, so ist leicht zu bemerken, wie sich das rhythmische Gefüge um ein Zentrum ordnet, das etwa mit dem Vers 12 beginnt und bis in die Mitte von Vers 14 reicht. In diesem Textteil häufen sich die einsilbigen Senkungen, als ob der Erzähler auf jedes Wort, auf jede Silbe gesteigerten Wert lege; denn er gibt in diesem Teil einen Vorblick auf den Charakter der Hauptfigur und zugleich auf die Brisanz des ganzen Stoffes.“
– Je weiter man in die Einzelheiten geht, desto größer die Wahrscheinlichkeit, das man irgendwo danebenliegt; aber dessen ungeachtet zeigt der Abschnitt sehr schön, wie über den Aufbau solcher verserzählenden Texte nachgedacht werden kann?!