Das Ein-Vers-Gedicht (2)

Will man ein Ein-Vers-Gedicht schreiben, ist der Hexameter eine gute Wahl: Er ist mit bis zu 17 Silben ein Langvers, und durch die Auswechselbarkeit von zwei- und dreisilbigen Versfüßen sehr abwechslungsreich, eine Eigenschaft, die durch die verschiedenen möglichen Zäsuren noch verstärkt wird (Einzelheiten kennen die Beiträge aus der Kategorie „Hexameter“!).

Ein Beispiel liefert wieder Friedrich Rückert:

 

Leichter hinein als hinaus, und leichter hinab als hinauf gehts.

 

Ein einwandfreier Hexameter, wieder aus Rückerts Liedertagebüchern. Der folgende Hexameter stammt allerdings nicht aus einer Gedichtsammlung:

 

Gottslohn! sagte der Bettler; da fiel ihm das Brot durch die Kiepe.

 

Ein vollkommener Hexameter, der aber aus den Aphorismen von Wilhelm Busch stammt; aus Prosa-Texten! Also strenggenommen kein Gedicht?! Eigentlich nicht, aber ich bin doch stark dafür, hier zumindest das Gastrecht gelten zu lassen. Hexameter bilden sich eben immer mal wieder zufällig in Prosatexten; und auch ein zufälliger Vers ist zuallererst ein Vers, und erst dann zufällig!

Beim dritten Beispiel dieses Beitrags gibt es wieder keinerlei Zweifel, der Hexameter steht in Johann Wolfgang Goethes gesammelten Gedichten!

 

Blumen reicht die Natur, es windet die Kunst sie zum Kranze.

 

Und wie es sich für einen Dichterfürsten gehört – nicht wie der Hexameter Rückerts eine schlichte Wahrheit aussprechend, und nicht wie der Hexameter Buschs eine leicht rätselhafte Szene vorstellend kommt Goethes Vers vollendet geformt und erkennbar sinnschwer daher …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert