Erzählverse: Der trochäische Vierheber (44)

Ignaz Franz Castelli war kein sehr origineller Dichter; er hat, auch handwerklich mäßig geschickt, gestaltet, was andere schon vor ihm gestaltet hatten. Gerade darum aber ist er geeignet, den auch 1844 (da erschienen seine gesammelten Werke) schon etliche Jahrhunderte lang benutzten Vorrat an Wendungen zur Beschreibung der weiblichen Schönheit so, wie er ist, vor den Leser hinzustellen! Er tut das am Anfang von „Liebesfeuer“:

 

Donna Stella war die schönste
Von den Frauen in Sevilla;
Trug sie ihren Schleier offen,
Mussten ihn die andren senken.

Ihre Augen waren Sonnen,
Und das Feuer dieser Sonnen
Zog aus Männeraugen Wasser,
Die doch sonst nicht gerne weinen.

Ihre Haare waren Netze,
Von den Grazien selbst geringelt,
Dass die Locken mussten locken
Jeden, der sie sah, und fangen.

Ihre Lippen waren rote,
Zum Genuss geschwellte Beeren,
Die da winkten, dass sich jeder
Lüstern mühte, sie zu pflücken.

Ihre Zähne waren Perlen,
Die nicht schliefen in den Tiefen,
Sondern in dem mildsten Glanze
Jedem Auge offen lagen.

Ihre Haut war Alabaster,
Drin sich blaue Adern schlängeln,
Und der Aeolsharfe Tönen
Glichen ihrer Stimme Klänge.

Also war der Frauen schönste
Donna Stella in Sevilla,
Und kein Männerauge pflegte
Unbedarft ihr zu begegnen.

 

Vierhebige reimlose Trochäen, in Strophen geordnet; was freilich durch das aufzählende Wesen des Gedichts nicht weiter auffällt.

Wie ernst dieser Text gemeint ist, ist schwer zu sagen … Spätestens nach den „lockenden Locken“ der dritten Strophe möchte man an eine Parodie oder einen sonstwie humoristischen Text glauben; aber ich fürchte, das ist er einfach nicht?!

Immerhin bietet er in übersichtlicher Form eine Übersicht über die altbewährten Versatzstücke, die weibliche Schönheit zu beschreiben; wer das heute wagen will, tunlichst in unernster Absicht! kann sich hier bedienen.

Die vorgestern unter (43) vorgestellten Verse Adolf Peters‘ waren sicher keine Meisterwerke, aber verglichen mit denen Castellis doch eine andere Liga – eben weil Peters dem Vorgefundenen eine eigene Wendung gegeben hat. Keine aufsehenerregende; aber immerhin!

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