Verserzählungen werden heutzutage nicht geschrieben, und würden sie geschrieben, läse sie niemand; Romane dagegen werden in unüberschaubaren Mengen von Schreibern geschrieben und von Lesern gelesen.
Da macht es Sinn, die beiden Gattungen einmal nebeneinander zu halten!? Carl Spitteler schreibt in seinem kleinen Aufsatz „Das Kriterium der epischen Veranlagung“:
Als Kennzeichen der epischen Veranlagung gelten mir: die Herzenslust an der Fülle des Geschehens, seien es nun Taten oder Ereignisse, die Freude am farbigen Reichtum der Welt, und zwar, wohlgemerkt, Reichtum der äußeren Erscheinungen, die Sehnsucht nach fernen Horizonten, das durstige Bedürfnis nach Höhenluft, weit über den Alltagsboden, ja über die Wirklichkeitsgrenzen und Vernunftschranken.
Und wenig später:
Zur Kontrolle von der Gegenseite her dient mir als sicheres Kennzeichen des Nichtepikers: die Lust an der Charakteristik, an der Seelenanalyse – also an psychologischen Problemen -, an der wohlmotivierten logisch-vernünftigen Erzählung.
Das ist nichts für einen Epiker,
weil es ja das oberste Gesetz epischer Kunst ist, Seelenzustände in Erscheinung umzusetzen. Umständliche seelische Motivierung, von innen heraus geschildert, würde also jedesmal in einem epischen Gedichte einen Fehler bedeuten.
Demnach ist das, was ein Nichtepiker – also für gewöhnlich ein Romanerzähler – betreibt,
nicht etwas ähnliches auf anderer Stufe, nein, es ist das schnurgerade Gegenteil in allem und jedem.
Ich glaube, da ist etwas dran …
Wie aber fügt sich der Vers hier ein?! Das legt Spitteler in einem anderen Text dar, „Über die tiefere Bedeutung von Vers und Reim“. Darin ordnet er der Prosa die „Verstandeslogik“ zu, der lyrischen Dichtung die „Gefühlslogik“, der epischen Dichtung aber die „Phantasielogik“ oder auch „Bildlogik“; und erklärt, zum Gelingen eines Textes sei es nötig, dass der Leser ihn im Rahmen der dazugehörigen Logik wahrnimmt!
Der Rhythmus stimmt die Seele des Hörers anders, als sie im gewöhnlichen Alltagsleben gestimmt ist, denn in dem spricht man Prosa; der Rhythmus weckt Bedürfnisse, die unter den gewöhnlichen Umständen schlummern, rückt Dinge, die im Hintergrund der Seele ruhten, an den ersten Platz und beseitigt dafür andere, die im täglichen Leben das große Wort führen. Die Seele des Hörers erwartet und begehrt einen anderen Inhalt von der rhythmischen Rede als von der prosaischen Rede und ist gewillt, gewissen Ansprüchen, die sie an die prosaische Rede oder Erzählung stellt, zu entsagen.
Und etwas weiter:
Wenn ich eine epische Poesie ohne starkschwingenden Rhythmus und ohne Vers und Reim bringen wolle, so würde ich unter die Herrschaft der nüchternen Verstandeslogik zu stehen kommen; der Hörer würde den Mangel einer Einleitung, einer genauen Situationsbeschreibung, die Unterlassung der Charakterschilderung als Lücken, die Gedankensprünge als Stöße und beides als Fehler empfinden. Auch hier erzeugen Rhythmus, Metrum und Reim andere Seelenstimmung, andere Wünsche und dadurch die Herrschaft einer anderen, höheren Logik.
Das steht nun auf wackligeren Füßen, finde ich; aber ein nachdenkenswerter Gedanke ist es allemal!