Erzählformen: Die Brunnen-Strophe (9)

„Brunnen-Strophe“, ich erwähnte es schon, ist ein Verlegenheits-Begriff; bei irgendeinem Namen muss diese Strophe ja genannt werden! Als ich heute kurz in Conrad Beyers „Deutsche Poetik“ schaute, stellte ich fest, dass er diese Aufgabe, nun, rustikaler gelöst hat: Da die Strophe leicht zu handhaben sei und daher von dilettierenden Dichtern sehr geschätzt werde, nannte Beyer sie einfach eine Dilettanten-Strophe. Tja … Nicht nett, aber wahrscheinlich zutreffend. Das folgende Werklein, „Liebe“, stammt von Victor Ludwig Eduard von Cambecq:

 

Die Lieb‘ ist eine Blume,
Im Paradies erblüht –
Ein lichter Traum, der wonnig
Das Menschenherz durchglüht.

Die Lieb‘ ist ein Gedanke
Der Gottheit, groß und schön –
Und wer ihn denkt, kann mutig
Dem Tod ins Auge seh’n.

 

Das ist, vielleicht: ein ganz gutes Beispiel für ein dilettierendes Gedicht. Sein Verfasser war mir gänzlich unbekannt, aber heutzutage gibt es ja nichts, was das Netz nicht weiß; und so erfuhr ich dann aus Franz Brümmers 1913 erschienenem „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“:

Cambecq, Victor Ludwig Eduard von, * 1833 in Dorpat, kam in seinem dritten Lebensjahre nach Kasan, wohin sein Vater als Professor des römischen Rechts für die dortige Universität versetzt worden war. In Kasan empfing der Sohn seine Bildung; er widmete sich naturwissenschaftlichen, historischen und besonders philologischen Studien, starb aber schon 1854, kurz vor Abschluss derselben.

Hm. Ein Leben von nur 21 Jahren … Da blieb dann auch nicht viel Zeit, aus dem Dilettanten-Dasein herauszuwachsen; und die Sache mit „Dem Tod ins Auge seh’n“ bekommt so einen etwas anderen Klang?!

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