Die Bewegungsschule (46)

Es ist an der Zeit, einmal wieder an den „Bewegungsschulen-Vers“ zu erinnern! Im letzten Trimeter-Eintrag ging es um Verse aus Adelbert von Chamissos „Fortunat“; der enthält aber auch eine Fülle anderer Versarten. Unter anderem finden sich ganz am Schluss des Bruchstücks, anschließend an iambische Trimeter, die folgenden Verse, in denen „Agrippina“ in höchster Verzweiflung „zurückweicht“:

 

Wildgrimmiger Leu du verdarbst in der Brust
Und der Liebe Gewalt und der Mitleid ganz
Richtender Gott weh, weh Rasender mir
Die zum Zorn ich gereizt den verderblichen Mann!
Denn raubte die Tat die entfliehende Zeit
Hält karg sie den Raub, und die Saat trägt Frucht
Und entschnellt, fleugt, trifft, der befiederte Pfeil
Spiel kindischer Lust ich bewege das Rad
Es im Schwung hinrollt, und erfasst und entrafft
Die erschrockene bangaufschreiende mich
Zu der Tiefe hinab.

 

Das ist inhaltlich ein wenig … wirr?! Auch durch die eigene Zeichensetzung. Ich kenne die Verse nun schon ein Weilchen, aber so wirklich verstanden, was in ihnen verhandelt wird, habe ich immer noch nicht. Oder nur so halb. Nun waren diese Verse ja auch gar nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, wer weiß also, als wie „fertig“ Chamisso sie angesehen hat – aber das Unzusammenhängende hilft sicher auch, die Seelenlage der Agrippina zu verdeutlichen; und dabei hilft auch der verwendete Vers, der  in seiner raschen, stürmischen Grundbewegung für diese Augenblicke höchsten Gefühls gut geeignet ist! Wer Chamissos Vers mit den bis (14) entwickelten Möglichkeiten vergleicht, stellt fest: Er bedient sich genau dieser Möglichkeiten – nur V3, der betont einsetzt, fällt aus der Reihe. Die Zäsur wird streng eingehalten; erst ganz am Schluss verzichtet ein Vers sogar völlig auf sie:

Die erschrok– / kene bang– / aufschrei– / ende mich

ta ta TAM / ta ta TAM / TAM TAM / ta ta TAM

An die Stelle des Einschnitts tritt also eine im Klang besondere schwebende Betonung, die die Versmitte im Gegenteil vollständig „vereinheitlicht“, ehe der letzte Vers, als Halbvers, dann die tiefstmögliche Pause herbeiführt, indem er schon in der eigentlichen Versmitte, dem Ort des Schnittes: schließt. Höchst eindrucksvoll!

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