Vor den angekündigten „heutigen Beispielen“ noch ein kurzer Besuch bei Johann Wolfgang von Goethe anlässlich eines Buches, das ich sicher nicht einmal halb so gründlich gelesen habe, wie es das eigentlich verdient hätte – Daniel Alders „Epistemologie der Figur. Stimmlichkeit und poetologische Figuralität in der Lyrik um 1800“ (Königshausen & Neumann 2015). Darin wird Goethes berühmter „Gesang der Geister über den Wassern“ ausführlich betrachtet. Der Anfang:
Des Menschen Seele
Gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es,
Zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder
Zur Erde muss es,
Ewig wechselnd.
Strömt von der hohen,
Steilen Felswand
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich
In Wolkenwellen
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend
Zur Tiefe nieder.
Zum „Leisrauschend“, dem vorletzten Vers also, schreibt Alder auf Seite 187:
Das Adjektiv „leisrauschend“ kommt rhythmisch einer Unentscheidbarkeitsstellung gleich. Entweder man betont die erste Silbe und formt einen Daktylus: betont – unbetont – unbetont; oder man betont die zweite Silbe und formt einen Amphybrachis: unbetont – betont – unbetont. Die strenge, klare Artikulation macht einem leisen Rauschen zwischen zwei Möglichkeiten Platz.
Hm.
Vom Vers aus gedacht: Alle anderen Verse dieser beiden Abschnitte sind reimlose Zweiheber, in denen Goethe die beiden Hebungen deutlich besetzt hat, und die auch sonst als geschlossene Versräume erfahrbar werden. Ist es da wirklich sinnvoll, einen Einheber dazwischen zu haben, oder liest man das „Leisrauschend“ nicht doch besser als Zweiheber, bei dem die mittlere Senkungsstelle nicht besetzt ist?
(x) X (x) (x) X (x)
Daraus lassen sich alle Zweiheber Goethes ableiten, und „Leisrauschend“ ist dann ein „betont – betont – unbetont“, was die beiden Silben „leis-“ und „rausch-“ sicherlich hergeben bezüglich ihrer Schwere (Sinngehalt, Umfang, Vokallänge)?!
Hm!
Wer mag, kann sich den Text anhören, und vergleichen und entscheiden; oft genug eingesprochen worden ist er ja … Zwei Beispiele:
Auch die Musiker hat dieser Text gereizt, auch da kann man nachdenken über die Art, wie sie ihn vertont haben, zum Beispiel: