Erzählverse: Der Blankvers (74)

Aus der Jugendzeit

In alten Briefen saß ich heut vergraben,
als einer plötzlich in die Hand mir fiel,
auf dem die Jahresziffer mich erschreckte,
so lange war es her, so lange schon.
Die Schrift stand groß und klein und glatt und kraus
und reichlich untermischt mit Tintenklecksen:
„Mein lieber Fritz, die Bäume sind nun kahl,
wir spielen nicht mehr Räuber und Soldat,
Türk hat das rechte Vorderbein gebrochen,
und Tante Hannchen hat noch immer Zahnweh,
Papa ist auf die Hühnerjagd gegangen.
Ich weiß nichts mehr. Mir geht es gut.
Schreib bald und bleibe recht gesund.
Dein Freund und Vetter Siegesmund.“
„Die Bäume sind nun kahl“, das herbe Wort
ließ mich die Briefe still zusammenlegen,
gab Hut und Handschuh mir und Rock und Stock
und drängte mich hinaus in meine Heide.

 

Detlev von Liliencron hat sich entschieden, diese Begebenheit im Blankvers wiederzugeben; und das war, denke ich, eine gute Wahl. Die vollkommene Spannungslosigkeit des Dargestellten wird durch die Satz-Vers-Spannung ein Stückweit ausgegleichen; wobei ein die Sprache stärker formendes Versmaß allerdings auch wieder übertrieben gewirkt hätte. So, und gefördert durch die Kürze des Textes: geht der Leser den Gang durch die Zeilen willig mit.

An Auflockerungen sind zu verzeichnen: Drei Vierheber, drei verkürzte Verse gerade da, wo dem jungen Briefeschreiber der Stoff ausgeht; ein Reim, mit dem er seinen Brief schließt, Gleichklang statt Inhalt; und (keine Auflockerung, eigentlich, aber doch deutlich vernehmbar) das „Rock und Stock“ des vorletzten Verses. Das alles fügt sich gut ein.

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