Erzählverse: Der Blankvers (75)

Im Herbst letzten Jahres ist Rainer Kirsch gestorben. Auch unter seinen Werken gibt es solche in Blankversen, etwa „Richard III.“, zu finden in „Gedichte und Lieder“, dem ersten Band seiner Werke, erschienen 2004 bei Eulenspiegel, auf Seite 65.

 

Von Mord zu Mord den Weg nach oben, oben
Ist keiner mehr im Weg, man ist es selber
Und muss nach unten morden, jeder Dolch
Ist umdrehbar und muss mit sieben Dolchen
Gehalten werden, dass er sich nicht umdreht
Und sieben Dolche brauchen neunundvierzig
Der Dolch des Dolches Dolch, und Zungen sind
Da sie den Dolchen Richtung geben, Dolche
Der Blick vom Gipfel ist der Blick zum Abgrund
Und aller Toten Zungen, denkt man, reden

 

Zeichnet im Blankvers geschriebene Texte auch für gewöhnlich eine gewisse Nähe zur Prosa aus, ein nur leichtes Geformt- und Geleitetsein der sonst bequem und frei dahinfließenden Sätze: Hier ist es anders, der recht kurze Text kreist um einige wenige Begriffe – Dolch, Mord, Zunge – und zwingt auch die Verse in diese Bewegung, wodurch alles doch sehr gestaltet wirkt, sehr von einem schaffenden Willen gelenkt; und das geht auch, der Text wirkt rund und fertig und ist wirksam?! Wobei die durchgängige Großschreibung der Versanfänge und das Fehlen der Zeichensetzung an den Versenden zum Eindruck des Gestaltetseins beitragen; aber nur für’s Auge, nicht für’s Ohr!

Auf planetlyrik.de findet sich ein Gespräch Rainer Kirschs mit Anthonya Visser aus dem Jahr 1990, in dem auch der Blankvers angesprochen wird. Kirsch:

Eine wirkliche Innovation, die bloß kaum jemand bemerkt hat, ist die Aufrauhung und Geschmeidigung des deutschen Blankverses nach 1945 auf dem Gebiet der DDR. Fürs Drama haben das im wesentlichen Müller und Hacks gemacht, die anknüpften an Brechts „Leben Eduard II. von England“. Für das Gedicht hatte das allein Rilke angefangen, in den großen ,Requiems‘ 1907/08. Aber Rilke hatte die Errungenschaften des Expressionismus nicht zur Hand. Die hatten wir, wir kannten alles von Georg Heym und van Hoddis. Und lasen natürlich die neuen Theaterstücke, eben Heiner Müller und Hacks.

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