Erzählformen: Das Distichon (23)

Wenn Dichter Hintergrundwissen zu ihren Werken preisgeben, ist das immer gut und ein Grund, genau hinzuhören. Friedrich Rückert tat solches in seinem Liedertagebuch-Eintrag vom 8. Januar 1846:

 

Nachhornrufserinnerung

Heute Nacht, gegen Morgen, als die Wächter in Berlin abriefen, wachte ich auf mit der Erinnerung an zwei Distichen, die ich vor 36 Jahren in Jena, in einer einsamen Nacht, geschrieben, und damals in Erinnerung an einen früheren Hornruf, aus meiner Kindheit in Oberlauringen, da ich als Knabe dem Nachtwächterhorne des Dorfes in der stillen Nacht ein andres aus dem Nachbardorfe über den Berg her (Theinfeld heißt das Dorf, wohin ich selbst meines Wissens nie hineingekommen, sondern es nur einmal von ferne gesehen) antworten hörte. Die zwei Distichen aber sind diese, von denen ich jetzt mich nicht erinnern kann, ob sie gedruckt sind, was sie wegen eines eigenen warmen Hauches, der sie durchatmet, wohl zu verdienen scheinen:

Ruhn sie? Rufet das Horn des Wächters drüben im Osten;
Und aus Westen das Horn rufet dagegen: Sie ruhn!
Hörst du, zagendes Herz, die tröstenden Stimmen der Engel?
Lösche die Lampe getrost, hülle in Frieden dich ein!

 

– Soweit Rückert. Ein „warmer Hauch, der sie durchatmet“: In der Tat. Wobei mir das erste Distichon etwas besser gefällt als das zweite, auch, weil der Pentameter nicht den harten Bruch aufweist, der sich im Deutschen leider oft an dieser Stelle findet, sondern den Satz über das Zusammentreffen der beiden schweren Silben in schöner Weise hinweggleiten lässt.

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