Ein Mal, ein einziges Mal ist Thomas Mann der Prosa untreu geworden und hat sich, wie er es nennt, als „metrischer Dichter“ versucht. Das war, als er in den allerletzten Tagen des ersten Weltkriegs mit der Idylle „Gesang vom Kindchen“ begann, die von der im April 1918 geborenen Tochter Elisabeth handelt. Geschrieben hat Mann seine Idylle in Hexametern, und im „Vorsatz“ des Gesangs beschreibt er diesen Vers.
Einen Silbenfall weiß ich – es liebten ihn Griechen und Deutsche –
Mäßigen Sinnes ist er, betrachtsam, heiter und rechtlich;
Zwischen Gesang und verständigem Wort hält er wohlig die Mitte,
Festlich und nüchtern zugleich. Die Leidenschaften zu malen,
Innere Dinge zu scheiden, spitzfindig, taugt er nicht eben.
Aber die äußere Welt, die besonnte, in sinnlicher Anmut
Abzuspiegeln in seinem Gekräusel, ist recht er geschaffen.
Plauderhaft gibt er sich gern und schweift zur Seite. Besonders
War es ihm immer gemäß, wenn es häuslich zuging und herzlich.
Der letzte Vers ist sicher ein Hinweis auf Goethes „Hermann und Dorothea“, was Mann als Vorbereitung gelesen hatte, und die „Luise“ von Voß, die er erst lesen wollte, dann aber verworfen hatte – beides „häusliche“ Idyllen.
Jedenfalls, was Mann mit seiner Hexameter-Beschreibung sagen will: Der Hexameter ist ein epischer, ein erzählender Vers. Alles, was nicht anschaulich ist, ist ihm erst einmal fremd! Das kann man natürlich auch etwas weniger verschwurbelt ausdrücken als Mann.
Ulrich Hötzer schreibt etwa in „Grata negligentia“ – Ungestiefelte Hexameter“, seinen unbedingt lesenswerten Bemerkungen zu Goethes und Mörikes Hexameter, zu finden in „Der Deutschunterricht 1964“:
Mit stets gleichbleibender Gebärde stellt dieser Vers, unendlich gereiht, Welt vor den Leser oder Hörer hin, und der gleichartige, aber nie identische Rhythmus spricht stets dieselbe Bewusstseinsebene an: aus dem Abstand betrachtende Teilnahme.
Oder, noch einprägsamer:
Der Hexameter stellt dem Hörer Welt gegenüber als reine, ungemischte und ungebrochene Gegenwart.
Das ist ein Standpunkt, den man heutzutage nicht mehr so ganz oft einnimmt in der Lyrik – vielleicht zu unrecht. Thomas Mann jedenfalls scheint er der wesentliche Punkt beim Hexameter zu sein, viel wichtiger als etwa eine genaue Befolgung der Versbau-Regeln. Er schrieb angesichts von Kritik an seinem Versbau 1920 an die „Rupprechtspresse“, die eine Luxusausgabe der Idylle herausbrachte :
Es kam mir mehr darauf an, den Hexameter zu markieren und seinen Geist, der der Geist des Gegenstands war, spüren zu lassen, als darauf, schulgerechte Verse zu schreiben, von denen übrigens eine nicht geringe Anzahl, willkommen geheißen, wenn sie ganz leicht und von ungefähr sich einstellten, in dem Gedicht zu finden ist. Die in Kritiken viel erwähnte Holprigkeit der Verse ist, meinem besseren Wissen zufolge, nur scheinbar. Liest man die Rhythmen nicht als Hexameter, sondern frei, so lesen sie sich gut, wie sprachlich feinfühlige Leute mir bestätigt haben.
Hm. Also meiner Meiung nach behauptet Mann da gerade, dass es Sinn macht, eine bestimmte Verssorte zu schreiben und dann ihre Eigenarten unter den Tische fallen zu lassen. Das scheint ein wenig wunderlich, und ich fürchte, Mann hat einfach nicht genug geübt, bevor er loslegte … Wie schrieb er, nachdem er schon vier Monate an der Idylle gearbeitet hatte, doch so schön in sein Tagebuch:
Erst jetzt verstehe ich mich eigentlich auf den Hexameter. Ich bin in dies kleine Unternehmen mit einer unglaublichen metrischen Ahnungslosigkeit hineingegangen. Irgendwie genau genommen, sind mindestens die Hälfte der Verse horribel. Hoffentlich hält man’s für freie Absicht.
Jaja. Aber das alles beiseite und vergessen: So schlecht sind Manns Verse dann auch nicht. Die Anschaulichkeit, der Geist des Gegenstands, ist immer da und oft eindrucksvoll; und dass Manns Hexameter nicht wie die von Goethe klingen, scheint zumindest mir verständlich angesichts der über 100 Jahre, die zwischen „Hermann und Dorothea“ und dem „Gesang von Kindchen“ liegen. Als Beispiel und Beleg hier noch einige Verse aus dem Abschnitt „Krankheit“, beginnend mit der Diagnose des Arztes:
Fluss des Mittelohrs, also lautet betrüblich sein Wahrspruch.
Da galt es pfleglich vorzugehen und nach der Verordnung:
Wasserstoffsuperoxyd, das dumpf und brodelnd im Ohr braust,
Einzulassen, so dass du betäubt die Augen verdrehtest,
Linderndes Öl, nicht zu kühl, doch um Gott auch wieder zu heiß nicht,
In den winzigen Hörgang zu träufeln, wo reißend die Qual dir
Nistete, und mit wärmender Watte den Eingang zu schließen.
Wasserstoffsuperoxyd. Heute nennt man das eher Wasserstoffperoxid, und es ist die wortgewordene Verortung der Idylle im 20. Jahrhundert. An den Schluss stelle ich noch ein Zitat Manns, das den Bogen schlägt wieder zum Anfang dieses Eintrags:
Hexameter und Grübelei ist jedenfalls ein Widerspruch. Der Vers verlangt klare, gesunde Gedanken.
Entnommen ist das Zitat, wie auch die beiden vorigen Zitate aus Brief und Tagebuch, den wichtige Auskunft gebenden „Nachbemerkungen des Herausgebers“, womit gemeint ist: Peter de Mendelssohn, der die „Gesammelten Werke“ Thomas Manns bei Fischer verantwortet hat; aus dem Band „Späte Erzählungen“ (!981) habe ich auch die Ausschnitte der Idylle übernommen – der erste findet sich auf den Seiten 102 und 103, der zweite auf Seite 119.