Erzählverse: Der trochäische Vierheber (52)

Johann Wilhelm Ludwig Gleim war ein Meister der wohlgefälligen Nichtigkeit. „Der Wert eines Mädchens“:

 

Neulich sprach ich mit den Bergen,
Und sie priesen mir ihr Silber,
Und den Schatz in goldnen Adern,
Und sie wollten mir ihn schenken,
Und ich wollt‘ ihn zu mir nehmen;
Aber, da ich nehmen wollte,
Sprang ein Mädchen aus dem Busche,
Gleich verließ ich Gold und Silber.

 

Der erste Vers hat seinen Reiz und weckt die Neugier; vielleicht stärker, als  die nachfolgenden Verse, und da besonders die beiden Schlussverse, es rechtfertigen. Aber so einen schnurgerade aufs Ziel zusteuernden, und dadurch geradezu nackten Text: muss man sich erst einmal trauen. Oder man ist Anakreontiker – dann ist diese Art zu schreiben eine Selbstverständlichkeit …

Der Vierheber formt sich entsprechend schlicht und dienend aus: zum Beispiel schließt jeder Vers mit einem zweisilbigen Wort, dessen zweite Silbe ein „schwaches e“ als Vokal hat! Das ist sehr nah an der „Alltagssprache“, für gewöhnlich bemühen sich die Verfasser, die Vokale der unbetonten Schluss-Silben abwechslungsreicher zu gestalten; ab und an eine etwas schwerere Schluss-Silbe einzumischen; und einsilbige Wörter in den Versausgang zu stellen. Gleim unterlässt alles das, aber nicht, weil er nicht geschickt genug dazu gewesen wäre als Dichter – nein: diese Schlichtheit gehört zum anakereontischen Gedicht.

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