Erzählverse: Der Hexameter (146)

Mir geht immer noch der in (145) erwähnte, 1821 im Rahmen einer Rezension der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ gefallene Satz im Kopf herum:

Auch ist es nicht gut, wenn nach einem daktylischen Anfang ein Spondeus, der nicht einmal ein voller ist, wieder einem nachfolgenden Daktylus vorangeht.

Hm. Im „klassischen deutschen Hexameter“ ist in der ersten Vershälfte die häufigste Anordnung von drei- und zweisilbigen Versfüßen das 2-3-2: Trochäus-Daktylus-Trochäus (oder eben „nicht voller Spondeus“ statt „Trochäus“, was hier aber gleichgültig ist). Warum gerade diese Bewegung so beliebt ist, ist leicht zu verstehen: Im ersten Fuß nimmt der Vers Bewegung auf, im zweiten bildet sich diese Bewegung rein, also daktylisch aus, und im dritten bremst sie schon wieder, weil sich dort meist die Zäsur befindet, eine Pause also.

Goethe hat unendlich viele so beginnende Hexameter, und besonders viele Daktylen im zweiten Fuß. Da ist anzunehmen, dass die Anordnungen der ersten drei Füße, die mit einem Daktylus beginnen, Ableitungen dieser Grundform sind – und tatsächlich: Schaut man die „erste Epistel“ durch, finden sich auf 106 Hexameter nur 34, die mit einem Daktylus beginnen; und darunter sind 14 der Form 3-3-2 und zwölf der Form 3-3-3 – das sind die besagten Ableitungen!

3-2-3, die in der Rezension erwähnte Form, ist nichts weniger als eine Umkehrung der gewöhnlichen Bewegung und sollte daher zwar vorkommen (der Hexameter lebt von der Abwechslung!), aber deutlich seltener; und in der Tat greift Goethe nur siebenmal zu dieser Anordnung der Füße (der dann noch fehlende Fall ist logischerweise ein 3-2-2).

Noch ein Gedanke: Wenn der zweite Fuß zweisilbig ist – liegt dort vielleicht eine verlangsamende Sinngrenze? Und ist die dann, wie so oft, mit einer Zäsur im vierten Fuß verbunden?! Nachzählen ergibt: vier der sieben Verse weisen diesen Bau auf! Zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Beispiele:

Wäre Homer | von allen gehört, | von allen gelesen,
Schmeichelt‘ er nicht | dem Geiste sich ein, | es sei auch der Hörer,

Die Sinngrenzen sind nicht allzu deutlich, aber da (und rein äußerlich am Wortschluss nach der vierten Silbe erkennbar). Einige Verse später klingt der Einschnitt deutlicher:

Göttlich verehrt, | ein Märchen erzählen. | In Kreise geschlossen,

Auch die Zäsur im vierten Fuß ist klar vernehmbar. Der vierte so gebaute Vers ist wieder flüchtiger:

Müsset Ihr Euch | erst würdig beweisen | und tüchtig zum Bürger.

Für alle vier aber gilt: Das sind ganz feine Hexameter, und keiner von ihnen stützt die Behauptung der Rezension! Ein wenig anders sieht es mit den drei verbleibenden Versen aus:

Aber bestärken | kannst du ihn wohl | in seiner Gesinnung

Dieser Gesellschaft | jemals betrat; | sie lieget im Meere

Diese beiden Hexameter sind genau gleich gebaut und weisen wie die vier schon gezeigten zwei Einschnitte auf, den zweiten im vierten Fuß; der erste aber liegt diesmal hinter dem zweiten Fuß, was nicht ganz so glücklich ist, weil dadurch am Versanfang ein „X x x X x“ hörbar wird; und das ist bekanntlich die Bewegung, die beständig am Hexameterschluss wiederkehrt und ihn dem Ohr kennzeichnet! Hier hätte der Rezensent also einen Punkt gemacht …

Der verbleibende Vers zeigt aber, dass das 3-2-3 bei fehlender Sinngrenze im / nach dem zweiten Fuß  und Einschnitt im dritten Fuß völlig bedenkenlos ist:

Sollen wir freudig horchen | und willig gehorchen, so musst du

Kein „X x x X x“ vernehmbar zu Beginn! Und wenn, wäre das auch nicht schlimm; einmal ist keinmal. Nur zur Gewohnheit sollte es nicht werden, sonst geht das Gespür für den Versschluss verloren. („gehorchen, so“ ist kein Vers-, sondern ein Satzeinschnitt, der hier nicht von Bedeutung ist.)

Und was sagt das alles jetzt genau? Vielleicht das: Hexameter beginnen selten mit der Verteilung 3-2-3. Tun sie’s, haben sie oft eine Wortgrenze nach der vierten Silbe. Bildet die „2“ des 3-2-3 ein Wort der Form „X x“, ist die Gefahr da, das am Versanfang ein unpassendes „X x x X x“  aufklingt!

Wobei die Betonung auf „vielleicht“ liegt – da müsste man jetzt viel größere Versmengen durchsehen, sowohl von Goethe als auch von anderen Verfassern. Und die zeigen dann, vielleicht: Alles ist ganz anders. Die aufgewendete Mühe lohnt sich aber in jedem Fall, denn das Nachdenken über die Versbewegung ist beim Hexameter immer „erste Verfasser-Pflicht“ … (Und ich denke, ein paar kleine weitere Stichproben schaue ich mir auch wirklich noch an.)

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