Homer ist auch heute noch ein bekannter und großer Name; trotzdem macht man sich schwer eine Vorstellung, wieviel er den Gebildeten des späten 18. Jahrhunderts bedeutet hat – und da besonders: den Dichtern.
Ich bin heute wieder einmal daran erinnert worden, als ich in Friedrich Gottlieb Klopstocks Briefen gelesen habe und dabei in einem von Klopstock an Gottlob Friedrich Ernst Schönborn gerichteten Brief vom 8.8.1776 diese Stelle fand – es geht dabei, mehr oder weniger, um das Baden in der Ostsee:
Stolberg deklamierte einmal Verse aus Homeren (bald aus dem Originale, bald aus seiner Übersetzung); und ich machte die Gestus dazu, auf der Fläche des Wassers nämlich und ihm oft ins Gesicht. Wenn er es mit Poseidaonen zu laut machte und es gar selbst sein wollte, so bekam er solche Wellen ins Gesicht, dass er fliehen musste.
Homer deklamieren, im Original, während des Badens?! Hm. Stolberg, das ist: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, hat aber nicht nur Homers Ilias übersetzt, sondern den griechischen Epiker auch in eigenen Gedichten behandelt. Der Anfang von „Homer“ (1775):
Heil dir, Homer!
Freudiger, entflammter, weinender Dank
Bebt auf der Lippe,
Schimmert im Auge,
Träufelt wie Tau
Hinab in deines Gesanges heiligen Strom!
Das ist nun allerdings ein Tonfall, der dem 21. Jahrhundert sehr fremd geworden ist … Ganz anders, und heutigen Ohren wohl auch verständlicher, klingt ein Jahr später (also 1776, das Jahr, in dem auch Klopstock seinen Brief schrieb) die erste Strophe von „Bei Homers Bilde“:
Du guter, alter, blinder Mann,
Wie ist mein Herz dir zugetan!
Nimm dieses Herzens heißen Dank
Für deinen göttlichen Gesang.
Da spricht eine große Liebe und Begeisterung; und wenn man sich Stolbergs Ilias anschaut, findet man dort ähnliches. Die Zeit ist über diese Übersetzung hinweggegangen, aber man kann sie doch immer noch hervorholen, dann und wann, und mit Gewinn lesen!