Erzählverse: Der Hexameter (5)

Familie Goethe und Klopstock

Ob Rockmusik, ob Hexameter – immer sind es die Jungen, die das Neue begierig und begeistert aufnehmen, und die Alten, die daran herumnörgeln. Bestes Beispiel: Familie Goethe!

Mit den Hexametern von Klopstocks „Messias“ war Johann Wolfgang Goethe schon von kleinauf vertraut. Dass das allerdings nicht ohne Schwierigkeiten und Aufregungen vonstatten ging, berichtet Goethe selbst in „Dichtung und Wahrheit“:

„Eine verdrießliche Epoche im Gegenteil eröffnete sich für meinen Vater, als durch Klopstocks ‘Messias‘ Verse, die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der öffentlichen Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehütet, dieses Werk anzuschaffen; aber unser Hausfreund, Rat Schneider, schwärzte es ein und steckte es der Mutter und den Kindern zu.

Die Mutter hielt es heimlich, und wir Geschwister bemächtigten uns desselben, wann wir konnten, um in Freistunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen, und besonders die zartesten und heftigsten so geschwind als möglich ins Gedächtnis zu fassen.

Portias Traum rezitierten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, welche ins Rote Meer gestürzt worden, hatten wir uns geteilt. Die erste Rolle, als die gewaltsamste, war auf mein Teil gekommen, die andere, um ein wenig kläglicher, übernahm meine Schwester. Die wechselseitigen, zwar gräßlichen aber doch wohlklingenden Verwünschungen flossen nur so vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit diesen höllischen Redensarten zu begrüßen.

Es war ein Samstagsabend im Winter – der Vater ließ sich immer bei Licht rasieren, um Sonntags früh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu können – wir saßen auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, während der Barbier einseifte, unsere herkömmlichen Flüche ziemlich leise. Nun so hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Händen zu fassen; meine Schwester packte mich gewaltig an, und rezitierte, zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft:

Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst,
Ungeheuer, dich an! Verworfner, schwarzer Verbrecher,
Hilf mir! ich leide die Pein des rächenden ewigen Todes!
Vormals konnt‘ ich mit heißem, mit grimmigem Hasse dich hassen!
Jetzt vermag ich’s nicht mehr! Auch dies ist stechender Jammer!

Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fürchterlicher Stimme rief sie die folgenden Worte:

O wie bin ich zermalmt!

Der gute Chirurgus erschrak und goss dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand, und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks, das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wäre. Um allen Verdacht des Mutwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als dass man sie nicht aufs neue hätte verrufen und verbannen sollen.“

Ja ja, so geht das … Aber angeschafft hat Goethes Vater den „Messias“ dann irgendwann doch, und auch Klopstock weilte zweimal als Gast in seinem Haus.

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