Erzählformen: Das Distichon (36)

Ein weiteres Beispiel für Friedrich Rückerts Umgang mit den Gestaltungsmöglichkeiten des Distichons, auch dieses genommen aus dem Liedertagebuch des Jahres 1855:

 

Liebchen, den blühenden Rasen betanze mit zierlichen nackten
Füßchen, im kotigen Weg ziehe dir Stiefelchen an.

 

Inhaltlich ist das Distichon antithetisch gebaut, wie es bei diesem Verspaar sehr häufig geschieht; allerdings verteilt Rückert die beiden entgegengesetzen Aussagen nicht auf die beiden Verse, sondern er lässt die erste Aussage bis in den zweiten Vers laufen! Man vergleiche:

Liebchen, den blühenden Rasen betanze mit nackigen Füßchen,
Aber im kotigen Weg ziehe dir Stiefelchen an.

– Das wäre das ganz harte Gegeneinander der Verse, noch betont durch das den Pentameter einleitende „aber“. Da ist schon viel von dem Spielerischen und scheinbar Absichtslosen aus Rückerts Versen verschwunden; noch klarer und härter werden sie, ersetzt man die Verkleinerungsformen:

Liebste, den blühenden Rasen betanze mit nackigen Füßen,
Aber im kotigen Weg ziehe die Stiefel dir an.

Und das ist dann schon ein ganz anderes Gedicht. Erwartbarer, vielleicht; aber besser?! Vieles von dem, was Rückert geschrieben hat, wirkt beim ersten Lesen wie ungekonnt, doch wie man Verse macht, wusste er sehr gut; und was er geschrieben hat, nicht für andere, sondern für sich, ist daher immer bewusste und willentliche Gestaltung, eine Auswahl aus den vielen ihm zu Gebote stehenden Gestaltungsmöglichkeiten. Und wenn man sich auf diese Gestaltung einlässt, kann man immer wieder Schönes und Ungewöhnliches entdecken! Das gilt auch für den Wortschatz, also hier zum Beispiel für das „betanzen“.

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