Erzählformen: Das Distichon (49)

Kaum habe ich vorgestern ein Gedicht vorgestellt, das eine Fußnote aufweist, stolpere ich andauernd über solche Texte! Friederike Brun hält dabei ziemlich wahrscheinlich den Rekord für das zügigste Vorkommen zweier Fußnoten: Die erste findet sich am Ende des Gedichttitels, die zweite nach der ersten Hälfte des ersten Verses!

 

Die Schwester und die Nymphe der Garonne *

Die Schwester

Nymphe des goldenen Stroms **, verlasse die schäumende Urne,
Heb‘, o Göttliche, hoch über die Wogen dein Haupt!
Höre die Stimme der Schwester, die laut den Jüngling verlanget,
Den dein mächtiger Arm tief im Abgrund verbarg.
Nymphe, pflegest du sein in wogenumdonnerter Halle?
Teilt der Holde mit dir deiner Unsterblichkeit Glück?

Die Nymphe

Nicht die Nymphe des Stroms entführte den Kühnen, den Schönen;
Hoch zum Olympus hinauf trug ihn ein stärkerer Gott!
Heimlich blühet er dort, umkränzt von ewiger Jugend.
Trockne die Träne des Harms! Weine den Seligen nicht!

* Ich verlor vor fünf Jahren einen geliebten Bruder, der beim Baden ertrank. Indem ich bei meiner Ankunft in Bordeaux über den Fluss setzte, entstanden diese Zeilen.
** Die Garonne zeichnet sich unter den gelben Strömen Frankreichs durch eine reinere tiefere Goldfarbe aus.

 

Am Text selbst ist kaum etwas bemerkenswert; vielleicht, wie uneigentlich die Verse heute wirken vor dem Hintergrund dessen, was die Verfasserin in den Fußnoten berichtet?! Das nächste Gedicht in ihrer Sammlung heißt „Die Nymphe des Mains und der Wandrer“, ist fußnotenfrei und beginnt mit diesem Distichon:

 

Der Wandrer

Schöne Nymphe des Mains mit den langen wallenden Locken,
Sag‘, o Liebliche, wem eilet entgegen dein Fuß?

 

Kein Bruder, der zu Tode gekommen ist; und keine irgend wahrnehmbare Änderung in Tonfall oder Aufbau oder …

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