Erzählformen: Das Distichon (4)

Eduard Mörike hat über eine Zisterzienser-Abtei die „Bilder aus Bebenhausen“ geschrieben; das vierte dieser Bilder hat die Überschrift „Kapitelsaal“.

 

Wieder und wieder bestaun‘ ich die Pracht der romanischen Halle,
Herrliche Bogen, auf kurzstämmige Säulen gestellt.
Rauh von Korn ist der Stein, doch nahm er willig die Zierde
Auch zu der Großheit auf, welche die Massen beseelt.
Nur ein düsteres Halblicht sendet der Tag durch die schmalen
Fenster herein und streift dort ein vergessenes Grab.
Rudolf dem Stifter, und ihr, Mechtildis, der frommen, vergönnte
Dankbar das Kloster, im Port seiner Geweihten zu ruhn.

 

Das ist sicher viel eher Beschreibung als Erzählung, aber sei’s drum: Die Distichen Mörikes sollte man gelesen haben, und vor allem auch: gesprochen haben! Am besten mehrmals, denn Mörike hatte ein feines Ohr für die Bewegung von Hexa- und Pentameter, und dieser Bewegung bei ihm nachzuspüren, lohnt sehr!

Vier Distichen, von denen jedes einen geschlossenen Satz und Gedanken fasst. Zwei Verse sind im Bau ein klein wenig besonders, einmal der Hexameter in V5, bei dem man eigentlich nach „Halblicht“ absetzen möchte?! Aber dadurch fiele die Zäsur zwischen zwei Einheiten, die dritte und die vierte, und das geht eigentlich nicht; die Hexameterzäsur liegt immer in einer Einheit! Also muss der Vers wohl so gelesen werden:

X x / X x x / X x / X x || x / X x x / X x

Nur ein / düsteres / Halblicht / sendet || der / Tag durch die / schmalen

Der andere Vers ist V2, der erste Pentameter. Oft ergibt sich in der Versmitte, wo die beiden betonten Silben zusammenstoßen, ein tiefer Einschnitt. Das ist aber keineswegs zwangsläufig so, wie Mörike hier zeigt:

X x x / X x x / X || X x x / X x x / X

Herrliche / Bogen, auf / kurz|| stämmige / Säulen ge- / stellt.

Hier sind die beiden betonten, schweren Silben Bestandteil eines Wortes, und damit muss die Sprechpause, die sie trennt, fast unmerkbar sein! Die Wirkung ist stark. Sicher kann man das nicht in jedem Pentameter machen, aber als zusätzliche Möglichkeit ist dieser Aufbau sehr erinnernswert; alles, was der Vielfalt dient, macht den Vers ausdrucksstärker!

Mörike wendet dieses Möglichkeit in den „Bildern“ noch an einer weiteren Stelle an, im ersten Distichon von „Nachmittags“, dem zehnten Bild:

 

Drei Uhr schlägt es im Kloster. Wie klar durch die schwülige Stille
Gleitet herüber zum Waldrande mit Beben der Schall.

 

Wieder ein eindrucksvoller Pentameter dank des „zum Wald|| rande“! Überhaupt sind Mörikes Hexa- und Pentamter reich an Überraschungen; er kannte zwar die Regeln der beiden Verse sehr gut, hat aber eben auch gesagt: „man kommt zuletzt am weitesten, wenn man in allen Fällen sein eigenes Gehör befragt.“ Und im Wechselspiel von Regeln und Gehör entstanden dann seine wirklich schönen Verse …

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