Erzählformen: Das Distichon (54)

Eduard Mörikes „Johann Kepler“ ist ein aus vielen Gründen reizvoller Text!

 

Gestern, als ich vom nächtlichen Lager den Stern mir in Osten
Lang betrachtete, den dort mit dem rötlichen Licht,
Und des Mannes gedachte, der seine Bahnen zu messen,
Von dem Gotte gereizt, himmlischer Pflicht sich ergab,
Durch beharrlichen Fleiß der Armut grimmigen Stachel
Zu versöhnen, umsonst, und zu verachten bemüht:
Mir entbrannte mein Herz von Wehmut bitter; ach! dacht ich,
Wussten die Himmlischen dir, Meister, kein besseres Los?
Wie ein Dichter den Helden sich wählt, wie Homer, von Achilles‘
Göttlichem Adel gerührt, schön im Gesang ihn erhob,
Also wandtest du ganz nach jenem Gestirne die Kräfte,
Sein gewaltiger Gang war dir ein ewiges Lied.
Doch so bewegt sich kein Gott von seinem goldenen Sitze,
Holdem Gesange geneigt, den zu erretten, herab,
Dem die höhere Macht die dunkeln Tage bestimmt hat,
Und euch Sterne berührt nimmer ein Menschengeschick;
Ihr geht über dem Haupte des Weisen oder des Toren
Euren seligen Weg ewig gelassen dahin!

 

Reizvoll sind sicher auch die Freiheiten, die sich Mörike im Versbau nimmt, zum Beispiel das „den dort“ des ersten Pentameters, das die beiden mittleren Hebungssilben belegt – nicht ohne Wirkung! Vor allem aber fallen die Freiheiten im Satzbau auf, die Unbefangenheit, mit der Mörike Satzteile dahin stellt, wo es ihm eben sinnvoll erscheint; zum Beispiel das „herab“, das den drittletzten Pentameter schließt!

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