Erzählverse: Der Hexameter (8)

Über Daktylen

Man kann von ganz unterschiedlichen Standpunkten aus auf den Hexameter blicken. Einer der häufigeren war und ist sicher der der „metrischen Grundeinheiten“.

Ich habe gestern mal wieder einen Stapel Papier umgesetzt, und dabei gerieten mir Kopien aus verschiedenen Metriken in die Hände. Beim Wieder-Lesen fand ich einige Bemerkungen über die dreisilbige metrische Grundeinheit, den sogenannten „Daktylus“ (X x x ), die mir bedenkenswert erscheinen…

Friedrich Kauffmann etwa schreibt in seiner „Neuhochdeutschen Metrik“ von 1907:

Je nach dem Silbengewicht der beiden Senkungen sind echte Daktylen von unechten zu unterscheiden. Überwiegt die zweite Senkungssilbe vor der ersten, so wird die Dreiteiligkeit des Versmaßes besonders deutlich ausgeprägt: jammervoll, Flügelschlag, fürchte nicht (echte Daktylen); überwiegt die erste Senkungssilbe vor der zweiten, so werden wir eher eine Abart trochäischer Maße gewahr: Jünglinge, fruchtbaren, Hauptstadt der (Welt), hier will ich (unechte Daktylen). Eine dritte Reihe bilden diejenigen Senkungsreihen, bei denen eine Abstufung nicht hervortritt (doppelte Senkung): betete, Menschlichkeit, löst sich das (Band).

„Echte“ und „unechte“ Daktylen?! Das ist, finde ich, erstmal bemerkenswert. Eine Erklärung für diese Bezeichnungen gibt Kauffmann aber nicht. Da lohnt es sich, 90 Jahre zurückzugehen zu Friedrich August Gotthold, der 1817 in seinem Aufsatz „Ist es ratsam, den Trochäus aus dem deutschen Hexameter zu verbannen?“ anmerkt:

Unser Daktylus stellt ungern die bedeutendere Silbe der unbedeutenderen voran, und wir hören lieber „gingen ans Ufer“ als „ging an das Ufer“, lieber „gab es uns freudig“ als „gab uns Erfreuten“, lieber „Sonderling“ als „Jünglinge“, lieber „baldigern“ als „schachernde“ usw.

Begründet wird diese Behauptung dann so:

Der Daktylus ist ein dreiteiliger Takt, im dreiteiligen Takte aber ist bekanntermaßen der erste Teil der Stärkste, der dritte schwächer, und der mittlere der schwächste, weshalb auch so oft dem ersten der drei Teile anderthalb Zeiten, dem zweiten aber nur eine halbe gegeben wird, während der dritte die seine ungeschmälert zu behaupten pflegt. Also um sich dem dreiteiligen Takte aufs genauste anzuschließen, stellt der Deutsche Daktylus die schwächere Kürze in die Mitte, und die stärkere an das Ende.

Das lohnt natürlich das Nachdenken – aber hat das auch einen Wert in der dichterischen Wirklichkeit?! Kauffmann sagt ja. Anschließend an das erste Zitat schreibt er:

In unseren daktylischen Gedichten gehen diese drei Typen durcheinander; aber je nach der Häufigkeit des einen oder anderen Typus entstehen verschieden geartete rhythmische Wirkungen. Echte Daktylen geben dem Gedicht einen hüpfenden Charakter, unechte Daktylen bringen feierliche Ruhe: daher die Verschiedenheit des rhythmischen Eindrucks, den wir von „Reineke Fuchs“ und „Hermann und Dorothea empfangen; dort schlagen die echten, hier die unechten Daktylen vor, deren Gewicht noch durch zahlreiche zweisilbige Füße verstärkt wird.

Leider belegt er diese Behauptungen nicht an den Texten; ich habe so meine Zweifel, jedenfalls bezüglich der Frage, in welchem Ausmaß diese Daktylen denn den Rhythmus prägen. Aber anregend sind solche Überlegungen auf jeden Fall, und wenn sich die Metriker auch oft und gern in den Haaren gelegen haben (Andreas Heusler, „Deutsche Versgeschichte“: Die Namen echte, unechte Daktylen sind wenig glücklich), kann man doch immer etwas mitnehmen aus ihren Ausführungen.

Zum Schluss noch etwas wirkliche Dichtung!

Unter den Xenien Schillers und Goethes finden sich manche metrische Lässlichkeiten – die beiden haben da oft fast mutwillig gegen die guten Sitten verstoßen. „Marmor“ hat eine deutliche Nebenhebung auf der zweiten Silbe und macht daher eine gute zweisilbige Einheit her im Hexameter, wie zum Beispiel in folgender Xenie:

 

Der Antiquar

Was ein christliches Auge nur sieht, erblick‘ ich im Marmor:
Zeus und sein ganzes Geschlecht grämt sich und fürchtet den Tod.

 

Als Bestandteil einer dreisilbigen Einheit taugt das Wort, wie oben erklärt, eher weniger. Das konnte die beiden aber nicht stören:

 

Höchster Zweck der Kunst

Schade fürs schöne Talent des herrlichen Künstlers! O hätt er
Aus dem Marmorblock doch ein Kruzifix uns gemacht!

 

Der Pentameter ist eigentlich eine ziemliche Frechheit:

Aus dem / Marmorblock / doch || ein / Kruzi- / fix uns ge- / macht!

Das „Aus dem“ ist zu schwach, das gleich anschließende „Marmorblock“ ein entsetzlicher Daktylus, und der Rest auch nicht besser. Hier wollten die beiden ihre Leser wohl einfach nur reizen, und den bezeugten Reaktionen nach ist es ihnen auch gelungen…

Dass er einen „Marmorblock“ auch vernünftig unterzubringen wusste, hat Goethe dann jedenfalls, viel später, im „Faust“ gezeigt: Im alternierenden Reimvers.

 

Wo jeden Tag, behend, im Doppelschritt,
Ein Marmorblock als Held ins Leben tritt.

 

Na bitte, geht doch …

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