Erzählformen: Der Zweiheber (29)

Sprachbewegung findet in der Prosa genauso statt wie im Vers, nur braucht es manchmal besondere Umstände, damit man sich ihrer bewusst wird! In Johann Wolfgang Goethes Singspiel „Lila“ stehen einige ziemlich berühmte Verse; das prosaische Drumherum ist aber wahrscheinlich weniger bekannt:

 

LILA. Was vermag ich?

MAGUS. Wenig! Doch erniedrige nicht deinen Willen unter dein Vermögen.

Feiger Gedanken
Bängliches Schwanken,
Weibisches Zagen,
Ängstliches Klagen
Wendet kein Elend,
Macht dich nicht frei.

Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei! Ab.

LILA allein. Er geht. Ungern seh ich ihn scheiden. Wie seine Gegenwart mir schon Mut, schon Hoffnung einflößt! Warum eilt er? Warum bleibt er nicht, dass ich an seiner Hand meinen Wünschen entgegengehe? Nein, ich will mich einsam nicht mehr abhärmen, ich will mich der Gesellschaft erfreuen, die mich umgibt. – Zaudert nicht länger, liebende Geister! Zeigt euch mir! Erscheinet, freundliche Gestalten!

 

Die Zweiheber-Verse sind im wesentlichen Adoneen, also Fünfsilber der Form X x x / X x. In der Menge prägen sie ihre Bewegung dem Ohr recht nachdrücklich ein, und der Leser kann nicht umhin, sie auch im Prosateil wahrzunehmen:

Zaudert nicht länger, liebende Geister!

Das ist schon eine Bewegung von hohem Wiedererkennungswert – der Adoneus ist eben ein feiner, kleiner Vers, mit dem sich einiges anstellen lässt! Man versuche es selbst …

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