„Das Lächeln“, im Untertitel „Eine Frühlingsballade“ genannt, ist ein Gedicht des im gestrigen Beitrag erwähnten Anton Wildgans. Es hat sieben Strophen; die vierte, fünfte und sechste lesen sich so:
In meinem Leben weiß ich einen Kranken,
Gelähmt an Gliedern, Willen und Gedanken,
Nur seine Seele war dem Wunder heil –
Der konnte lächeln, wenn der erste Schimmer
Der Frühlingssonne in sein traurig Zimmer
Sich leise schob, ein goldner, zarter Keil.
Der konnte lächeln über jede Blüte,
Dass dieses Lächelns wundervolle Güte
Dem toten Auge flüchtig Leben gab:
Der konnte weinen über Kinderlieder
Und tiefer atmen, wenn der Duft vom Flieder
Ihn grüßen kam in seiner Kissen Grab.
Und dieses Lächeln, diese Tränen waren
So überreich an jenem Wunderbaren,
Des alle darben, die so dumpf-gesund.
Und ich hielt dieses Mannes Hand im Sterben,
Und ward zu seines Lächelns Erben,
Das wie ein Blühen lag um seinen blassen Mund.
– Und das sind fraglos sichere Verse. Die sechste Strophe weicht allerdings etwas ab vom gewöhnlichen Aufbau der verwendeten Schweifreim-Strophe: Der fünfte Vers hat nur vier Hebungen statt der vorgesehenen fünf, dafür ist dann aber der sechste Vers um eine Hebung zu lang, er hat deren sechs!
An der Wirkung der Strophe ändert das nichts, die Silbenzahl bleibt ja gleich, es wird nur leicht „umverteilt“. Schaut man in die anderen Strophen, fällt allerdings noch eine weitaus größere Abweichung auf – die zweite Strophe:
Dass über Nacht ein Wunder neu geboren,
Dass aus der alten Häuser tiefen Toren
Nun wieder Kinderlaut und Kühle weht –
Und dass sich Wölkchen bilden in den Lüften
Von Zigaretten- und Orangendüften
Oder Parfum, wenn eine schöne Frau vorübergeht –
Was ist da vom letzten Vers zu halten? Sind das nicht sogar sieben Hebungen?! Zum Glück kann man Verfasser selbst befragen – es gibt eine historische Lesung des „Lächelns“ von ihm, aus dem Jahre 1931:
Anton Wildgans liest „Das Lächeln“
Wie man damals eben so vortrug, sehr weihevoll-getragen … Den „Parfum-Vers“ liest sein Schöpfer, wie mir scheint, aber mit nur fünf Hebungen, also zwei dreisilbig besetzten Senkungen?! Oder, wenn man will, fünfeinhalb Hebungen; das „oder“ vorn ist nicht ganz schwach.
Insgesamt haben vier von sieben Strophen verlängerte Schlussverse; das ist also sicher kein Zufall, sondern gestalterische Absicht!