Wie bei allem muss auch in Bezug auf die den Vers betreffenden Fragen nicht alles geglaubt werden, was dazu geschrieben und gesagt wurde und wird.
Ein Beispiel, das eher zur Erheiterung des Lesenden als zur Vertiefung seines Vers-Verständnisses dient, ist Johannes Minckwitz‘ Erklärung, wie der Pentameter als zweiter Vers des Distichons entstanden ist:
Wie also der lyrische Dichter nachsann, auf welche Weise er am besten eine zweite ähnliche Reihe dem Hexameter zur Seite stellen könnte, so kam er zunächst auf den Gedanken, den ganzen ersten Anlauf, welchen der Hexameter bis zu seiner Hauptzäsur nimmt, zu wiederholen und zu der beabsichtigten Verszeile zu verwenden. Natürlich wählte er dazu die kräftigste Hauptzäsur aus, die männliche, da diese es ist, welche dem Hexameter seinen sichersten Halt gibt, wenn wir auch nicht berechtigt sind, sie die häufigste Hauptzäsur zu nennen. Nachdem der Dichter einen Hexameter vorausgeschickt hatte, wie etwa folgenden:
Singe den schrecklichen Zorn des berühmten Peliden Achilleus
… fuhr er, an die neue Reihe denkend, fort, indem er den ganzen ersten Anlauf des Hexameters wiederholte:
Singe den schrecklichen Zorn.
Dadurch hatte der Versifizierende nun wenigstens ein Stück für eine neue Reihe gewonnen, und bei diesem Wurfe hätte er sich allerdings beruhigen können; ist doch eine solche Strophenform, an und für sich tadellos, in der Lyrik auch wirklich gebraucht worden. Allein für den ersten Erfinder, der sich einmal nach einer neuen Form umsah, wird man es natürlich finden, dass er sich nicht mit dieser kurzen Reihe begnügte; er ging darauf aus, dem langen, vielsilbigen Hexameter einen verhältnismäßig ebenso langen Vers entgegenzustellen, damit der neue dem alten desto besser entspreche. Dazu kam, dass der neue Vers im Grunde bloß ein Anlauf, ein Stück war und abgerissen klang, während er eine Zeile suchte mit gutem, richtigem und für den gesamten Rhythmenstrom entsprechendem Schlusse. Unmittelbar anhängen durfte er jedoch nichts, wenn er nicht ganz in den Hexameter zurückfallen wollte. Und ohne Weiteres schlug er den einfachsten und natürlichsten Weg ein: er gab dem Bilde sein Gegenbild und wiederholte den gesamten Rhythmenstrom des ersten Wurfs.
Um den glücklichen Griff möglichst zu verdeutlichen, will ich auch die nämlichen Worte für das Gegenbild beibehalten. Die ganze Strophe lautete nach dem Gesagten auf die nächste und einfachste Weise:
Singe den schrecklichen Zorn des berühmten Peliden Achilleus,
Singe den schrecklichen Zorn, singe den schrecklichen Zorn.
Als wäre er dabeigewesen, der Herr Minckwitz … Aber das heißt selbstverständlich nicht, dass diese metrische Räuberpistole nicht auch an ein, zwei Stellen Bedenkenswertes äußerte; über die Aufteilung des Distichons in „Drei Pentameter-Hälften und zweite Hexameter-Hälfte“ hat sich zum Beispiel auch Ludwig Strauß Gedanken gemacht in seinem sehr lesenswerten Aufsatz „Zur Struktur des deutschen Distichons“!