Nach 1870 sind in Deutschland viele Versepen und -erzählungen geschrieben worden, und viele davon waren sehr erfolgreich; und trotzdem sind diese „Kaiserreich-Texte“ heute fast vollständig vergessen und auch nicht wirklich lesbar. Das liegt, denke ich, an diesem Überzug aus Kitsch und Pathos, in den sich oft genug noch ein wenig Nationalismus mischt – damals verständlich, heute verdächtig. Dieser Überzug ist mal stärker, mal schwächer, aber da ist er eigentlich immer.
In Friedrich Wilhelm Webers „Goliath“ ist das nicht anders. Aber darüber hinaus bekommt man im ersten Kapitel auch noch das wirkliche Leben aus dieser Zeit geschildert in einer Art einleitender Erzählung; was Grund genug ist, da einmal reinzulesen.
Beim roten Freunde
Gedenkst du, lieber Magnus, noch des Tags –
Im Winter war’s; die hagren Spreeundinen
Erstarrten schier in ihres Eispalasts
Bleigrauer Dämmerung und frischten auf
Bei reichlichem Gespräch und manchem Seufzer,
Wie arme Fräulein tun, zu ihrem Putz
Des letzten Sommers halbverblichnen Staat,
Indes am Tor im weiten winddurchrauschten
Tiergarten die Dyrade, warm umhegt
Vom zarten Flaum des Schnees, gewiegt vom Nord
In Eich‘ und Föhre schlief und träumte, träumte
Vom jungen Lenz und seinem Liebeswerben;
Gedenkst du noch des Tags, mein lieber Magnus,
Als uns zum ersten Mal der biedre Freund geladen?
Der rote hieß er noch im engen Kreis,
Weil lichtes Gold ihm einst das Haupt umspann:
Zu bleichem Silber war es längst entwertet,
Doch um so reicher war sein kluger Kopf
An feinem Witz und leuchtenden Gedanken.
Der alte Herr, ein lebend Wörterbuch,
Ein Schalk wie Reineke, doch sonder Arg,
Weichherzig wie ein Kind und nebenbei
Des Rechts im Heer nicht allzu grimmer Hüter.
Des Hauses Herrscherin, stets würdevoll
Und gnadenreich, erschien an diesem Tag
In schwerer, tief-burgunderroter Seide,
Und trug sie diese, war sie jedesmal
Mehr als gewöhnlich feierlich und groß.
Die Guten beide, lange ruhn sie schon,
Dem Weserwald, der schönen Heimat fern,
Von dir und mir beweint, im märk’schen Sand.
Die Tischgenossen, vier geheime Räte,
Mit Frau’n und Töchtern, ein Chemieprofessor,
Ein schmaler, schmucker Fähnrich, ein Major
Und du und ich. Es war so schwül im Saal,
Wir saßen steif und sprachen unterlaut:
Das tat die tief-burgunderrote Seide.
Nur der Chemist, harthörig, wie er war,
Schrie seiner Nachbarin, der blassen Dora,
Das leise Gabelklirren übertönend,
Den Nahrungswert von Kalb und Käs‘ und Kohl
In Dezimalen bis zur fünften Stelle
So laut und lehrhaft zu, dass wir erschraken
Und die gestrenge Dame hohen Haupts
Nicht allzu liebreich auf den Graukopf blickte.
Dann, als sie winkt‘ und heimlichen Befehl
Dem Diener gab – ein frommes Blut vom Lande,
Dem Herrn als Bursch vom Heere zugewiesen –
Und jener, missverstehend, statt des Süßen,
Das sie bestellt, die Küchenlampe brachte, –
Magnus, du weißt, es war die Küchenlampe,
Die Küchenlampe war’s und nicht das Süße! –
Und nun die Gnäd’ge plötzlich dunkelrot,
Rot wie die tief-burgunderrote Seide,
Voll schweren Unmuts auf den Sünder sah
Mit finstrer Stirn und „Aber, Friedrich!“ rief:
Da riss das Zauberband, das uns gelähmt,
Wir brachen aus in fröhliches Gelächter,
Und Friedrichs arme Einfalt lachte mit,
Und sie, die ernste Frau, sie lachte laut,
Am lautesten jedoch der rote Freund.
Jetzt war, vom Weine feucht, die Zunge los,
Und leichter glitt die Rede von der Lippe.
Und während das Gespräch von dem und der,
Von dieser und von jenem und so weiter,
Gleich raschen Bällen, die man fängt und wirft,
Von Mund zu Munde flog, erzähltest du,
Derweil du weintest, aßest, trankst und weintest,
Aus deinem Heimatland im Norden mir
Vom Goliath die traurige Geschichte,
Ich lauschte still und glaubte, wie du sprachst,
Den warmen Sommerduft von Norwegs Tannen,
Den Eishauch seiner Gletscher zu empfinden.
So tief bewegte mich dein kurzes Wort,
Dass ich es manchen Tag im Herzen trug,
Wie man ein Kleinod wahrt im sichern Schrein.
Und wiederhol‘ ich jetzt, was du mir gabst,
Es ist doch nimmer das, was du mir gabst
Und miterlebt. Der Landschaft Riesengröße
Mit Fels und Wald und See und Wasserfall,
Die stillen Menschen, ernst und treu und fest,
Den harten Klippen ihrer Berge gleich,
In scharfen Zügen stelltest du sie dar:
Wie deine Künstlerhand in reichen Farben
Die Gotteswunder, Fels und Wald und See
Und stilles Leben auf die Leinwand zaubert.
Tu‘ jeder, was er kann! Und so beginnt
Vom Goliath die traurige Geschichte.
Eine leicht mythologisch verbrämte Einleitung kann sich ein Epos allemal leisten, denke ich; aber „der zarte Flaum des Schnees“, das „Liebeswerben des jungen Lenzes“ – das sind so Dinge, in denen für mich der Kitsch sich zeigt?!
Die eigentliche Schilderung der Tischgesellschaft liest sich dann angenehm, und einzelne Verse sind schon recht einprägsam: „Das tat die tief-burgunderrote Seide“. Und auch die ruhige Ausgeglichenheit, die Erzähgeschwindigkeit machen keinen üblen Eindruck?!
Na, soweit erst einmal. Ich denke, ich komme in einem späteren Eintrag noch einmal auf die eigentliche Geschichte zu sprechen!