Erzählverse: Der Blankvers (119)

Einen Blankverstext noch, bevor es wieder in eine andere Richtung geht, diesmal einen harten und unnachgiebigen: Leo Sternbergs „Die Lebensmüden“.

 

Was kommt dort für ein seltner Pferdeknecht?
Bringt seinen Markteinkauf der Schinder heim?
Durch das Gewühl der Großstadt führt der Tod
der Klepper lange Koppel, kahl gehalftert,
mit strohdurchflochtnen Schwänzen, Hängebäuchen,
Wundaugen auf den Hüften, scheele, lahme,
nur Sehnen noch der Hals, und um den Huf,
an dem das halbgelöste Eisen klappert,
des Fesselbusches ungeschnittner Strupp.

Des Führers Finger deutet rechts und links;
auf Brauergäule dort, bergan gepeitscht;
auf doppelstöckiger Straßenbahn Gespann,
das nass gejagt am ganzen Leibe dampft;
auf der berittnen Wachen erznen Rappen,
der festgegossen in der Torfahrt starrt;
und auf des Droschkenkutschers gichtigen Koller,
der mit der Nase tief im Futtersack
von Hafer träumt, den er im Himmel findet.

Entzäunt, entsattelt, jeder Last entschirrt,
mit ungetrübtem Auge seht ihr jetzt
dem Treiben zu. Es ist euch freigestellt,
es noch einmal zu leben. Also wählt!
Noch einmal heben sie die langen Stirnen,
gespitzten Ohres in die Ferne prüfend.
Lang sagen sie nicht „ja“ und auch nicht „nein“,
dann sinkt die Stirn: „Es ist uns einerlei.“

„So spricht der Sterbende! Voran denn, Alter!“
Und auf schwingt sich der Tod wie ein Ulan
und reitet alle in die große Schwemme.

 

Auf seine Art eine nicht weniger wirksame Sammlung einprägsamer Einzelheiten als das in (118) gezeigte Liliencron-Gedicht … Der Vers „Entzäunt, entsattelt, jeder Last entschirrt“ ist eine schöne Ergänzung zu Wortvergnügt (7)!

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