Erzählverse: Der Hexameter (14)

Johann Heinrich Voss

Um Johann Heinrich Voss bin ich bisher ein wenig herumgeschlichen, und das, obwohl er für den Hexameter ein sehr wichtiger Mann war – für die Praxis in eigenen Gedichten wie in Übersetzungen (Homer!) und ebenso, eigentlich noch mehr, für die Theorie des Verses.

Der Grund ist einfach der: Voss betrachtete den deutschen Hexameter nicht als einen Vers, der sich lediglich aus betonten und unbetonten Silben zusammensetzt, sondern als einen, in dem zusätzlich auch noch die Silbenlänge eine Rolle spielt. In der Antike war das ja der Maßstab, der Vers regelte sich aus der Abfolge von langen und kurzen Silben.

Bei Voss klingt das so (in der Vorrede seiner Übersetzung von Vergils „Georgica“):

Der deutsche Hexameter ist, wie jener der Alten, eine rhythmisch deutlich begrenzte Periode von sechs vierzeitigen Takten, die mit einer gehobenen Länge anfangen und entweder mit einer Länge, oder, den letzten ausgenommen, mit zwei Kürzen, aber auch (was Neuerung ist), mit einer Kürze sich senken; das ist, die aus einem Spondäus oder Daktylus oder Trochäus bestehen. Füllt ein Trochäus den Takt, so wird seine Länge dreizeitig, oder, mit dem Musiker zu reden, ein punktierter Halbfuß.

Man hört, da wird etwas in den deutschen Vers hineingetragen, das erst einmal fremd ist; Ob es sich zum Guten oder zum Schlechten bemerkbar macht, ist nicht von vorneherein klar. In seiner „Zeitmessung der deutschen Sprache“ gibt Voss ein eindrucksvolles Beispiel:

Wer nicht zugleich Ton und Takt zu halten weiß, dem behagt mehr die kunstlose Natürlichkeit in Versen wie

Düstere Sturmnacht zog, und graunvoll wogte das Meer auf

als die durch Kunst veredelte Natur in

Düsterer zog Sturmnacht, graunvoll rings wogte das Meer auf

Den ersten Vers könnte man ohne weiteres mit dem bisher von mir verwendeten „X-Schema“ der betonten und unbetonten Silben gliedern:

Düstere / Sturmnacht / zog, || und / graunvoll / wogte das / Meer auf

X x x / X x / X || x / X x / X x x / X x

Aber so hat ihn Voss nicht gedacht. Ich wähle ab jetzt für Verse, in denen ich eher die Längen und Kürzen im Auge habe als die Betonungen, ein anderes Schema, in dem „“ eine lange Silbe darstellen soll, und „v“ eine kurze. Damit ergibt sich für den Vers von Voss:

— v v / — — / — || — / — — / — v v / — —

Ihn so zu lesen, fällt aber sicher manchem schwer. Deswegen ist Voss auf den schon einmal angesprochenen Trick mit den „geschleiften Spondäen“ verfallen. Die zweite Fassung des Verses sieht metrisch genau so aus wie die erste:

Düsterer zog Sturmnacht, graunvoll rings wogte das Meer auf

— v v / — — / — || — / — — / — v v / — —

Aber dadurch, dass Voss die eigentlich stärker betonten Silben auf die Senkungspositionen stellt und dadurch Hebungs- und Senkungspositionen sowohl in Bezug auf die Silbenstärke als auch in Bezug auf die Silbenanlänge angleicht, schafft er eine Strecke von sieben(!) gleich (schwer) betonten Silben:

Düsterer zog Sturmnacht, graunvoll rings wogte das Meer auf

Ist das noch Deutsch? Wer weiß … Es ist aber auf jeden Fall ein rhythmisch sehr, sehr eindrucksvoller Vers. In Voss‘ wirklich geschriebenen Versen treibt er es aber nicht immer so weit. In „Der siebzigste Geburtstag“ schildert Voss etwa einen Haushalt, der sich auf den Geburtstag seines Hausherrn vorbereitet. Dessen Frau, die auf Sohn und Schwiegertochter wartet, macht sich Sorgen über das Winterwetter:

 

Jetzo sah sie hinaus, wie die stöbernden Flocken am Fenster
Rieselten, und wie der Ost dort wirbelte, dort in den Eschen
Rauscht‘, und die Spuren verwehte der hüpfenden Krähen am Scheuntor.
Lange mit ernstem Gesicht, ihr Haupt und die Hände bewegend,
Stand sie vertieft in Gedanken, und flüsterte halb, was sie dachte:
Lieber Gott, wie es stürmt, und der Schnee in den Gründen sich aufhäuft!

 

Obwohl man hört, dass hier rhythmisch gestaltet wird, ist die Sprachbewegung trotzdem recht gewöhnlich. Besonders gut gefällt mir der letzte Vers – der metrische Aufbau ist unauffällig, aber die Sinneinheiten gliedern sich sehr schön:

Lieber Gott, / wie es stürmt, / und der Schnee / in den Gründen / sich aufhäuft!

X x X / x x X / x x X / x x X x / x X X

Das ist natürlich persönlicher Geschmack, aber das sind alles rhythmische Einheiten, die ich als ausdrucksstark empfinde!

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