Erzählverse: Der trochäische Vierheber (76)

Manchmal liest man einen Gedichttitel und ahnt schon, was für eine Form, was für einen Vers der Text verwendet. So ging es mir bei Rosa Maria Assings „Amor und die Nymphen“; und beim Aufschlagen erwies sich die Vermutung als richtig, dem doch recht anakreontisch anmutenden Titel entsprach ein anakreontischer Vers, der gereihte, ungereimte trochäische Vierheber! Der Anfang der Geschichte:

 

In dem Haine Aphroditens
Lag der kleine Sohn der Göttin,
Amor, einst in tiefem Schlafe
(Denn auch Amor schläft zuweilen!)
Hingestreckt im jungen Grase.
Bunte Wiesenblümchen schmiegten
Sich an seine zarten Glieder,
Leichte Zesiretten kosten
Mit den kleinen goldnen Locken,
Die geringelt und ambrosisch
Um das zarte Antlitz wallten,
Und vor Phöbus Feuerstrahlen
Schützte ihn der Rosenbüsche
Einer, der im heil’gen Haine
Blühend, süße Düfte hauchte.
Von der Nymphen Hand gepfleget,
Blühten weiß die zarten Rosen,
Und noch keine böse Stacheln,
Die verletzen zarte Hände,
Waren ihnen beigesellet.
Doch da kam die Schaar der Nymphen,
Blumen in dem Hain zu pflücken,
Um den Altar Aphrodites
Schön zu schmücken und zu kränzen,
Und so nahten sie dem Strauche,
Wo der kleine, lose Knabe
Lag in tiefem, festem Schlafe.
„Schwestern!“ rief die eine Nymphe,
„Schwestern! hütet euch und pflücket
Ja nicht dort von jenen Rosen,
Denn es liegt der Knabe Amor
Schlafend dort in ihrem Schatten;
Leichtlich könntet ihr ihn wecken!“

 

Das tut niemandem weh; ob man es beliebig in die Länge strecken sollte, ist allerdings eine Frage, die zu stellen ist.

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