Erzählverse: Der Hexameter (15)

Voß und Goethe

Eine bemerkenswerte Beziehung“ Auf der einen Seite der gute, aber nicht herausragende Dichter, dabei aber ein ausgewiesener und allseits anerkannter Fachmann in metrischen Fragen, auf der anderen Seite der überragende Dichter, der aber in metrischen Fragen oft unsicher war und Rat suchte: Beim Thema „Hexameter“ begegneten die beiden sich immer wieder, bis Goethe den Vers schließlich aufgab.

Wie die Verhältnisse lagen, lässt sich vielleicht an zwei Zitaten zeigen. Das erste stammt von Wilhelm von Humboldt und findet sich in einem Brief aus dem Jahr 1797, in dem er auch auf Goethes hexametrisches Werk „Hermann und Dorothea“ zu sprechen kommt:

Goethe ist noch hier, er hat sein episches Gedicht beendigt, das unendlich schön ist und dessen Ende noch den Anfang selbst übertrifft. Auch mit dem Versbau hat er sich viel Mühe gegeben und mich oft konsultiert. Ich habe ihm meinen Rat ganz offen erteilt, und nicht wenig Verse hat er wirklich geändert. Allein sollte auch alles durchaus fehlerfrei sein, so wird der große Reichtum und die Kraft des Rhythmus ihm nie recht eigen sein, wenigstens nicht so prävalierend als in Voß.

Aha. „Unendlich schön“ kann er schreiben, der Goethe, aber die „Kraft des Rhythmus“ hat er nicht!

Goethe schrieb wiederum Humboldt in einem viel späteren Brief (1799):

Was Sie bei Gelegenheit eines erhöhteren Kunstausdrucks von Vossen und seiner Rhythmik sagen, davon bin ich mehr als jemals überzeugt, nur schade, dass ich kaum erleben kann, dass die Sache ins gleiche kommt … Ich habe jetzt mit dem besten Willen die Georgiken (Vergil-Übersetzung von Voß – F.) Wenn man die deutschen Verse liest, ohne einen Sinn von ihnen zu verlangen, so haben sie unstreitig vieles Verdienst, was man seinen eigenen Arbeiten wünschen muss; sucht man aber darin den geistigen Abdruck des himmelreinen und schönen Vergils, so schaudert man an vielen Stellen mit Entsetzen zurück, …

Soso: Rhythmisch ist er allen ein Vorbild, der Voß, aber was er an Inhalten bietet, führt zu Schaudern und Entsetzen!

Den beiden auf den Versen, äh, Fersen zu bleiben, dürfte also lohnen … Um ihre Schreibweise vergleichen zu können, hier noch je ein knapper Auschnitt – einmal aus Goethes Reineke Fuchs (in dem sich sicher Goethes sorgloseste Hexameter finden), und einmal aus Voß‘ Nacherzählung von „Philemon und Baucis“ (wodurch die Nähe zum antiken Vers ja schon „an sich“ da ist):

 

Braun erreichte das Schloss und fand die gewöhnliche Pforte
Fest verschlossen. Da trat er davor und besann sich ein wenig;
Endlich rief er und sprach: „Herr Oheim, seid Ihr zu Hause?
Braun, der Bär, ist gekommen, des Königs gerichtlicher Bote.
Denn es hat der König geschworen, Ihr sollet bei Hofe
Vor Gericht Euch stellen, ich soll Euch holen, damit Ihr
Recht zu nehmen und Recht zu geben keinem verweigert,
Oder es soll Euch das Leben kosten; denn bleibt Ihr dahinten,
Ist mit Galgen und Rad Euch gedroht. Drum wählet das Beste,
Kommt und folget mir nach, sonst möcht es Euch übel bekommen.“

 

Die Androhung von Strafe bei Goethe; bei Voss der Vollzug der (göttlichen) Strafe:

 

So die Hügel hinan, und des Bergs pfadlose Verwildrung,
Klimmen sie bang aufseufzend. Doch jetzt nicht weiter vom Gipfel
Mehr entfernt, als flieget der Pfeil von des Jünglinges Bogen,
Hören sie Sturm und Geheul und den Hall dumpfkrachender Donner
Unten im Tal, und ein Brausen, wie hoch aufbrandender Wasser.
Angstvoll wenden die Alten den Blick, und schaun voll Entsetzens
Ringsum Flur und Häuser versenkt in die steigende Sündflut,
Die am Gebirg aufschäumt‘, und dort mit zerfallenden Trümmern
Strudelte, dort wehklagendes Vieh, dort Menschen umhertrug,
Mütter und Greis‘ und Mädchen, um Bäume geschmiegt, in Verzweiflung.

 

Unterschiede sind erkennbar! Ich beschränke mich hier mal auf zwei.

Einmal die Füllung der zweisilbigen Einheiten am Versanfang: Sehr leicht bei Goethe („Denn es“, „Vor Ge-“ „Ist mit“), oft schwer bei Voss („Angstvoll“, „Ringsum“).

Dann die Natürlichkeit und Prosanähe bei Goethe, dagegen der rhythmische Gestaltungswille bei Voß, etwa in diesem Vers:

ren sie / Sturm und Ge- / heul || und den / Hall dumpf- / krachender / Donner

— v v / — v v / — || v v / — — / — v v / — v

Der ganze Vers ist, passend zum Inhalt, schnell (vier zweisilbige Senkungen), doch in dem Moment, wo der Donner kracht, setzt Voss einen Spondäus“ („Hall dumpf-„), zwei wirklich schwere, lange, kraftvolle Silben.

Ich sage jetzt, wohlgemerkt! nicht, Goethe ist besser als Voß, oder umgekehrt; ich möchte nur zeigen, dass die beiden doch arg unterschiedliche Vorstellungen von diesem Vers hatten.

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