Der „Ioniker a minore“ im Hexameter
Kann eine rhythmische Figur der Form „x x X X“, “ ta ta tam tam“ im Hexameter vorkommen?! Nicht so einfach, aber mit etwas gutem Willen geht es!
Dafür muss sich aber der entsprechende deutsche Hexameter recht stark am antiken Vorbild ausrichten. Bei den Griechen und Römern konnte die letzte Silbe entweder „lang“ oder „kurz“ sein, soll heißen, im Versausgang waren diese beiden Formen möglich:
— v v — v
— v v — —
Bei der zweiten Form ist der Ionikus schon erkennbar, oder? Alles, was es dann noch braucht, ist ein Sinn-Einschnitt vor der viertletzten Silbe, und das „ta ta tam tam“ wird hörbar!
— || v v — —
Beispiele nehme ich aus der Ilias-Übersetzung von Voß – die ist ganz sicher „an der Antike orientiert“ … Zwanzigster Gesang, Vers 25:
Denn wo Achilleus allein den Troern naht in der Feldschlacht
„In der Feldschlacht“ ist das gesuchte „v v — —“! „Präposition + Artikel + Kompositum“ ist dabei eine gerngenommene Wahl, aber es geht natürlich auch anders – zwanzigster Gesang, Vers 374:
Trojas Söhn‘, und es stürmte der Streiter Gewühl und Geschrei scholl
„und Geschrei scholl“. Es geht aber auch mit Adjektiven, etwa im vierten Gesang, Vers 534:
Welche, wie groß der Held, wie gewaltig er war und wie ruhmvoll
Bitte: „und wie ruhmvoll“! Natürlich sind die letzten beiden Silben auch darum annährend gleichschwer, weil die Pause am Versende immer dazu führt, dass die letzte Silbe etwas mehr Beachtung erfährt. Dementsprechend sind Ioniker im Versinnern zwar denkbar, aber da wird die zweite Silbe wohl doch etwas schwächer gelesen als die erste. Damit das ganze überhaupt möglich wird, braucht es einen bukolischen Schnitt – also eine Sinnpause vor der (schweren) fünftletzten Silbe – und einem (Haupt)-Schnitt in der dritten, mit zwei unbetonten Silben ausgestatteten Einheit; und schließlich eine vierte Einheit, in der beide Silben (fast) gleichschwer sind. Hm, ich sehe schon, es ist wieder Zeit für ein Beispiel – diesmal aus Vossens eigener Praxis, der „Luise“ (zweite Idylle, Vers 25):
Väterchen, wachst du schon? Da ich aufstand, schliefst du so ruhig;
Väterchen, wachst du schon? Da ich aufstand, schliefst du so ruhig;
Alles, wie oben angekündigt; Aber wenn man den Vers spricht, merkt man schnell, dass es hier zumindest mehr Überzeugung braucht, den Ioniker hörbar zu machen … Andere Beispiele verhalten sich ähnlich – zweite Idylle, Vers 84:
Hurtig das Becken gereicht, und das Handtuch! Glüht mir das Antlitz
In „und das Handtuch“ wird natürlich die letzte Silbe durch das folgende Rufzeichen etwas gestützt. Aber allgemein – nein, das ist nicht so ganz das Wahre. Dann doch lieber die Ioniker am Versende. Ich schließe daher mit einem „Vergleichs-Ioniker“ aus Vossens „Bezaubertem Teufel“:
Wetter! so setze doch ab! Du Esel säufst wie ein Postknecht!
Hübsch! Aber wie gesagt – für diese Art von Erscheinung braucht es ein antikisierendes Verständnis des Verses. Im rein deutschen Hexameter, sagen wir, goethischer Ausprägung wird sich derlei seltener finden … Nichtsdestotrotz liest es sich eindrucksvoll, der Vers gewinnt an Schwere und Ausdruck, verliert aber dafür an Natürlichkeit. Ab und an ist das auch schön!