Mit den bisher in der Bewegungsschule besprochenen Einheiten lässt sich gut arbeiten – entweder sie ensprechen schon vollständigen Versen (die dann eher kurz sind), oder sie tauchen auf als Bestandteile längerer Verse; von Hexametern, zum Beispiel.
Aber selbstredend kann man auch eigene Verse zusammensetzen aus diesen Einheiten, oder bestehende Verse abändern – die Möglichkeiten sind endlos!
Vielleicht lohnt in dieser Hinsicht der Blick auf ein Gedicht Rainer Maria Rilkes aus dessen letztem Lebensjahr, ein unveröffentlichter Text aus dem Nachlass?!
Von nahendem Regen fast zärtlich verdunkelter Garten,
Garten unter der zögernden Hand.
Als besännen sich, ernster, in den Beeten die Arten,
wie es geschah, dass sie ein Gärtner erfand.
Denn sie denken ja ihn; gemischt in die heitere Freiheit
bleibt sein bemühtes Gemüt, bleibt vielleicht sein Verzicht.
Auch an ihnen zerrt, die uns so seltsam erzieht, diese Zweiheit;
noch in dem Leichtesten wecken wir Gegengewicht.
Zwei Kreuzreim-Strophen also; gereimte Verse. Doch ist da nicht einiges seltsam?! Vom geregelten Auf und Ab, wie es Reimverse ja viel häufiger aufweisen, als dass sie darauf verzichten, ist jedenfalls nichts zu bemerken. Ich gehe Vers für Vers durch im Versuch, der jeweiligen Bewegungslinie nachzuspüren …
Ich kenne mich bei Rilke nicht aus, aber V1 klingt mir recht mechanisch für einen seiner Verse?
Von nahendem Regen fast zärtlich verdunkelter Garten,
ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta
Ein ganz leichter Hexameter-Anklang ist da?! Dessen Grundform sieht ja so aus:
TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta
– Und da passt der Rilke Vers gut rein, auch die Zäsur „sitzt“:
TAM (ta) Von / nahendem / Regen || fast / zärtlich ver- / dunkelter / Garten,
Nur am Anfang fehlt eine „schwere“ Silbe. Damit ist es keinesfalls ein Hexameter, aber eine Spur ist gelegt! Verfolgt man sie, erkennt man V2 als einen halben Hexameter, „Anfang bis Zäsur“:
Garten / unter der / zögernden / Hand. || ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta
Es scheint also etwas an der „Hexameter-Annahme“ dran zu sein! Und tatsächlich, V3 ist ein nahezu makelloser Hexameter:
Als be- / sännen sich, / ernster, || in den / Beeten die / Arten,
Was stimmt nicht? – Die Zäsur sitzt nicht, wie beim Hexameter eiserne Regel, in einer metrischen Einheit, sondern zwischen zwei metrischen Einheiten!
V4 bringt dann etwas Neues: Er ist ein unvollständiger Pentameter! Da ein Hexameter und ein Pentameter ein Distichon bilden, weitet sich hier der Rahmen, ohne sich aber groß zu verändern?! Der Pentameter sieht so aus:
TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM || / TAM ta ta / TAM ta ta / TAM
TAM ta (ta) / wie es ge- / schah, || dass sie ein / Gärtner er- / fand.
– V3 und V4 bilden also ein leicht fehlerhaftes und nicht ganz vollständiges, ansonsten aber wahrnehmbares Distichon?!
V5 und V6 lassen dann, wenn man so will, die Maske fallen: Ein fast vollkommenes Distichon tönt auf!
Denn sie / denken ja / ihn; || ge- / mischt in die / heitere / Freiheit
bleibt sein be- / mühtes Ge- / müt, || bleibt viel- / leicht sein Ver- / zicht.
„Fast vollkommen“, denn in der zweiten Pentamterhälfte fehlt eine unbetonte Silbe. Das fällt aber kaum auf, und ist auch eine Freiheit, die sich viele Verfasser gelegentlich genommen haben; viel stärker wirkt da auf das Ohr das „bleibt …, bleibt …“ – eine für Pentamter und Distichon kennzeichnende Gegenüberstellung der beiden Pentameter-Hälften!
Jetzt wundert es nicht mehr, dass auch V7 und V8 ein Distichon bilden. Auch dieses ist nicht ganz formvollendet – der Hexameter ist diesmal etwas zu lang (um die zwei Silben, um die V1 zu kurz ist!), und der Pentamter hat zumindest eine Auffälligkeit, die dritte „schwere“ Silbe direkt vor der Zäsur:
(Auch an) ihnen / zerrt, die / uns || so / seltsam er- / zieht, diese / Zweiheit;
noch in dem / Leichtes- / ten || wecken wir / Gegenge- / wicht.
„-ten“ eine „schwere“ Silbe?! Auch das ist zumindest nicht ohne Vorbild, Hölderlin zum Beispiel hat das gerne und häufig gemacht:
Voll ist die / Luft von / Fröhlichen / jetzt || und die / Stadt und der / Hain ist
Rings von zu- / friede- / nen || Kindern des / Himmels er- / füllt.
– Ein Distichon ziemlich vom Anfang einer hölderlinschen Elegie, „Stuttgard“.
Insgesamt also ein Herantasten ans Distichon, bis es in V5 / V6 wirklich hörbares Ereignis wird, und doch immer eine Kleinigkeit aufweist, die es fremd klingen lässt?! Ich denke schon.
Was aber nicht vergessen werden darf: Der Text gehorcht gleichzeitig noch einem anderen Ordnungssystem, dem von Reim und Strophe nämlich! Der antiken Form Distichon und ihren Versen, Hexameter und Pentameter, sind diese beiden Größen vollkommen fremd; Hexameter reimen sich nicht. Ob und wie beides trotzdem zusammengeht – dem kann jeder selbst nachhören?! Eine spannende Frage auf jeden Fall; durch den Kreuzreim ist es ja zum Beispiel so, dass innerhalb der Einheit „Distichon“ – V5, V6 – vom Reim überhaupt nichts zu spüren ist; der wird erst dann wahrnehmbar, wenn das Distichon in V5, V6 schon „abgewickelt“ ist und mit dem Ertönen des etwas undeutlicheren Distichons in V7, V8 die Strophe sich schließt und wahrnehmbar wird …
Aber wie auch immer: Die Art, wie hier Verse verfremdet und abgewandelt werden, gibt sicher auch ein bedenkenswertes Beispiel für die eigenen Versuche ab!