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Bücher zum Vers (45)

Henning Boetius / Christa Hein: Die ganze Welt in einem Satz.
Sprach- und Schreibwerkstatt für junge Dichter.

„Für jugendliche Dichter“, scheint mir?! Auch wenn es nicht eigentlich ein „Buch zum Vers“ ist – Gedichte kommen nur am Rande vor, geregelte Verse gar nicht -, habe ich recht gerne hineingeschaut; die Dinge werden auf über 200 Seiten anschaulich und unter Verwendung vieler sinnvoller Übungen erklärt. Und spätestens die sind dann auch für nicht mehr jugendliche Leser durchaus noch förderlich … Bei dieser hier (Seite 107) habe ich mich an Rudyard Kiplings „Kim“ erinnert gefühlt:

Geh in einen dunklen Raum, knipse kurz das Licht an und mache es nach einigen Sekunden wieder aus. Danach geh nach nebenan und schreibe auf, was du alles bemerkt hast: Gegenstände, ihre Lage zueinander, Farben, Tapetenmuster, Vorhänge usw.

Nun weiß ich’s nicht sicher, ich bin schon ein Weilchen kein Jugendlicher mehr; aber ich kann mir zumindest vorstellen, dass die Dichter von morgen recht gern mit diesem Buch arbeiten.

Erschienen 2010 bei Beltz & Gelberg!

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Ohne Titel

Es ist, damit ein Text entsteht,
Vonnöten, dass die Feder geht,
Quer über’s Blatt, in stetem Schritt –
So zieht die Hand das Denken mit …

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Erzählverse: Der trochäische Vierheber (29)

„Diva Faustina“ von Jacob Julius David ist eine nicht mehr kurze, noch nicht lange Erzählung, wie man sie im 19. Jahrhundert  geschätzt hat.  Die meisten davon klingen heute überholt, so als gehörten sie unwiderruflich der Vergangenheit an. „Diva Faustina“ ist da keine Ausnahme; ich habe das Werklein aber doch gerne gelesen!

 

Durch den ungeheuren Zirkus
Klang der Abschiedsgruß der Tuba;
Und in stolzen Doppelreihen
Zogen nunmehr den Quiriten
Auf der Gladiatoren Rotten.
Schwerterklirrend, panzerrasselnd
Nahten, die im heißen Kampfspiel
Ihre Gegner überwunden.
Riesen waren’s und ihr Schreiten
Ließ den Boden dumpf erdröhnen,
Donnergrollend drang ihr Grüßen:
„Ave, Ave, Imperator!“

Nur ein einzger blieb zurücke;
Er erhob nicht seine Stimme
Mit den andern, müde schritt er,
Und des Schwertes starke Klinge
War ihm Stütze, wenn er wankte.
In der Mitte der Arena,
Atemholend, blieb er stehen.
Sein umflortes Auge kehrte
Sich zu jenen Marmorbänken,
Drauf der Senatoren Töchter
Lächelnd, reichen Putzes, saßen,
Jene suchend, der die besten
Seiner teuern Fechterkünste
Stets gegolten, die in heißen
Sommernächten sein gewesen;
Sein in schwülen, atemlosen
Nächten Roms …

Als er sie schaute,
Überlief ein starkes Beben
Seinen Leib; der Riese schwankte,
Fahl zum Tod rang er nach Luft.
Und er riss mit jähem Griffe
Auf sein Wams. Er wies dem Volke
All die vielen, schweren Narben,
Ihm in wilden Zirkusspielen
Schon geschlagen; hier die Spuren
Unbarmherzger Thrakerlanzen;
Dort den Krallengriff des Löwen,
Dann die Spur des Partherpfeiles.
Und aus tiefster und geheimster
Todeswunde floss gewaltig,
Unaufhaltsam, heiß und schäumend
Rotes Blut.

Der Fechter neigte
Sacht sein Haupt, dass blonde Haare,
Es umwallend, vorwärts fielen,
Hub mit letzter Kraft die Klinge,
Rief: „Faustina!“ Zuckend fiel er.

Doch Faustina? Sie erhob sich.
Vorgebeugt verfolgt‘ sie jede
Todeswindung des gestählten
Riesenkörpers, und ein leiser
Schauer lief durch ihre Brust.
Auf dem Sande der Arena
Flammte grell die Mittagssonne;
Ihre Wimper senkt‘ sie schattend –
War’s davor? War es in Trauer?

Dann, am Arme eines holden,
Wohlduftvollen Ritterjünglings
Stieg sie der Arena Stufen
Nieder sittig, zagen Ganges.

 

Das scheinen wieder recht prosanahe Vierheber zu sein; wie sehr sich das Ohr aber an die Bewegung gewöhnt, lässt sich an den beiden Stellen erkennen, an denen David einen Vers auf das Ende des einen und den Anfang des folgenden Abschnitts verteilt; die teilt er nach der dritten Silbe, aus

X x / X x / X x / X x

wird


X x X

x X x X x

– und die beiden plötzlich unbetont anhebenden (Kurz-)Verse stehen doch einigermaßen fremd im Text, verändern für einen Augenblick deutlich vernehmbar die Bewegung?!

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Erzählformen: Das Reimpaar (1)

Nun kann man zwei Verse sehr vieler Vers-Arten zu einem Reimpaar zusammenfügen; hier soll es aber um das Reimpaar aus zwei iambischen Vierhebern gehen!

Diese Form ist so alt wie die deutsche Dichtung selbst, und dementsprechend groß sind die „Altlasten“, die man sich ans Bein bindet, wählt man sie … Ich bin nicht wirklich sicher, ob im 21. Jahrhundert noch so erzählt werden kann; aber ausschließen will ich es auch nicht. Daher stelle ich hier im weiteren einige Texte vor, die so gebaut sind, und dann mag jeder für sich entscheiden!

Den Anfang macht ein Text von Franz Werfel, „Die Fremdheit“; zu finden in seinen Gesammelten Werken, genauer, im Band „Das lyrische Werk“ (Fischer 1967), auf Seite 440.

Ein Reimpaar aus imabischen Vierhebern sieht so aus:

x X / x X / x X / x X a
x X / x X / x X / x X a

– Jedenfalls, solange man keine „weiblichen Reime“ zulässt, also den Vers auf eine unbetonte Silbe enden lässt. So hält es Werfel, und er stellt auch jeden einzelnen Vers heraus, indem er kaum Zeilensprünge verwendet, zu Beginn gar keinen – jeder Vers entspricht einem Satz! Dann wird es in der Mitte ein wenig beweglicher, ehe am Schluss wieder „Vers = Satz“ gilt.

 

Er ging an einem Haus entlang.
Ein Ruf aus einem Fenster sprang.
Nichts. Nur ein Mädchen „Vater“ rief.
Ein fremder Bass erwidert tief.
Doch er blieb stehn, ins Herz verstört,
Als hätt‘ er Gottes Ruf gehört,
Der ihn im Kindeslaut vermahnt,
Wie unverquickt und unverzahnt
Er west im irdischen Verband,
Ein Korn, geschleudert übern Rand, …
Da horcht und harrt er totenbleich,
Dass ihn ein neuer Ruf erreich‘,
Doch nur das Fenster schließt sich laut.
Sein Körper steht wie hingebaut.
Auf seinem Haupte, schief und steif,
Die Fremdheit sammelt sich wie Reif.

 

Das ist vielleicht ein ganz guter Text, um den Vers als solchen erst einmal wahrzunehmen, was hier durch die Vereinzelung möglich wird? Auch der Reim versteckt sich nicht, er formt und fordert den Vers wie den Satz und macht sich so bemerkbar.

Sein Körper steht wie hingebaut.

– Als ich den Text zum ersten Mal gelesen habe vor Jahren, ist mir dieser Vers sofort im Gedächtnis geblieben!

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Ohne Titel

Dem, der seinen Hunger stillt,
Wird er wiederkehren –
Wer da einen Kühlschrank füllt,
Tut’s, um ihn zu leeren …

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Die Bewegungsschule (35)

Mit den bisher in der Bewegungsschule besprochenen Einheiten lässt sich gut arbeiten – entweder sie ensprechen schon vollständigen Versen (die dann eher kurz sind), oder sie tauchen auf als Bestandteile längerer Verse; von Hexametern, zum Beispiel.

Aber selbstredend kann man auch eigene Verse zusammensetzen aus diesen Einheiten, oder bestehende Verse abändern – die Möglichkeiten sind endlos!

Vielleicht lohnt in dieser Hinsicht der Blick auf ein Gedicht Rainer Maria Rilkes aus dessen letztem Lebensjahr, ein unveröffentlichter Text aus dem Nachlass?!

 

Von nahendem Regen fast zärtlich verdunkelter Garten,
Garten unter der zögernden Hand.
Als besännen sich, ernster, in den Beeten die Arten,
wie es geschah, dass sie ein Gärtner erfand.

Denn sie denken ja ihn; gemischt in die heitere Freiheit
bleibt sein bemühtes Gemüt, bleibt vielleicht sein Verzicht.
Auch an ihnen zerrt, die uns so seltsam erzieht, diese Zweiheit;
noch in dem Leichtesten wecken wir Gegengewicht.

 

Zwei Kreuzreim-Strophen also; gereimte Verse. Doch ist da nicht einiges seltsam?! Vom geregelten Auf und Ab, wie es Reimverse ja viel häufiger aufweisen, als dass sie darauf verzichten, ist jedenfalls nichts zu bemerken. Ich gehe Vers für Vers durch im Versuch, der jeweiligen Bewegungslinie nachzuspüren …

Ich kenne mich bei Rilke nicht aus, aber V1 klingt mir recht mechanisch für einen seiner Verse?

Von nahendem Regen fast zärtlich verdunkelter Garten,

ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta ta TAM ta

Ein ganz leichter Hexameter-Anklang ist da?! Dessen Grundform sieht ja so aus:

TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta

– Und da passt der Rilke Vers gut rein, auch die Zäsur „sitzt“:

TAM (ta) Von / nahendem / Regen || fast / zärtlich ver- / dunkelter / Garten,

Nur am Anfang fehlt eine „schwere“ Silbe. Damit ist es keinesfalls ein Hexameter, aber eine Spur ist gelegt!  Verfolgt man sie, erkennt man V2 als einen halben Hexameter, „Anfang bis Zäsur“:

Garten / unter der / gernden / Hand. || ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM ta

Es scheint also etwas an der „Hexameter-Annahme“ dran zu sein! Und tatsächlich, V3 ist ein nahezu makelloser Hexameter:

Als be- / sännen sich, / ernster, || in den / Beeten die / Arten,

Was stimmt nicht? – Die Zäsur sitzt nicht, wie beim Hexameter eiserne Regel, in einer metrischen Einheit, sondern zwischen zwei metrischen Einheiten!

V4 bringt dann etwas Neues: Er ist ein unvollständiger Pentameter! Da ein Hexameter und ein Pentameter ein Distichon bilden, weitet sich hier der Rahmen, ohne sich aber groß zu verändern?! Der Pentameter sieht so aus:

TAM ta (ta) / TAM ta (ta) / TAM || / TAM ta ta / TAM ta ta / TAM

TAM ta (ta) / wie es ge- / schah, || dass sie ein / Gärtner er- / fand.

– V3 und V4 bilden also ein leicht fehlerhaftes und nicht ganz vollständiges, ansonsten aber wahrnehmbares Distichon?!

V5 und V6 lassen dann, wenn man so will, die Maske fallen: Ein fast vollkommenes Distichon tönt auf!

Denn sie / denken ja / ihn; || ge- / mischt in die / heitere / Freiheit
bleibt sein be- / mühtes Ge- / müt, || bleibt viel- / leicht sein Ver- / zicht.

„Fast vollkommen“, denn in der zweiten Pentamterhälfte fehlt eine unbetonte Silbe. Das fällt aber kaum auf, und ist auch eine Freiheit, die sich viele Verfasser gelegentlich genommen haben; viel stärker wirkt da auf das Ohr das „bleibt …, bleibt …“ – eine für Pentamter und Distichon kennzeichnende Gegenüberstellung der beiden Pentameter-Hälften!

Jetzt wundert es nicht mehr, dass auch V7 und V8 ein Distichon bilden. Auch dieses ist nicht ganz formvollendet – der Hexameter ist diesmal etwas zu lang (um die zwei Silben, um die V1 zu kurz ist!), und der Pentamter hat zumindest eine Auffälligkeit, die dritte „schwere“ Silbe direkt vor der Zäsur:

(Auch an)  ihnen / zerrt, die / uns || so / seltsam er- / zieht, diese / Zweiheit;
noch in dem / Leichtes- / ten || wecken wir / Gegenge- / wicht.

„-ten“ eine „schwere“ Silbe?! Auch das ist zumindest nicht ohne Vorbild, Hölderlin zum Beispiel hat das gerne und häufig gemacht:

Voll ist die / Luft von / Fröhlichen / jetzt || und die / Stadt und der / Hain ist
Rings von zu- / friede- / nen || Kindern des / Himmels er- / füllt.

– Ein Distichon ziemlich vom Anfang einer hölderlinschen Elegie, „Stuttgard“.

Insgesamt also ein Herantasten ans Distichon, bis es in V5 / V6 wirklich hörbares Ereignis wird, und doch immer eine Kleinigkeit aufweist, die es fremd klingen lässt?! Ich denke schon.

Was aber nicht vergessen werden darf: Der Text gehorcht gleichzeitig noch einem anderen Ordnungssystem, dem von Reim und Strophe nämlich! Der antiken Form Distichon und ihren Versen, Hexameter und Pentameter, sind diese beiden Größen vollkommen fremd; Hexameter reimen sich nicht. Ob und wie beides trotzdem zusammengeht – dem kann jeder selbst nachhören?! Eine spannende Frage auf jeden Fall; durch den Kreuzreim ist es ja zum Beispiel so, dass innerhalb der Einheit „Distichon“ – V5, V6 – vom Reim überhaupt nichts zu spüren ist; der wird erst dann wahrnehmbar, wenn das Distichon in V5, V6 schon „abgewickelt“ ist und mit dem Ertönen des etwas undeutlicheren Distichons  in V7, V8 die Strophe sich schließt und wahrnehmbar wird …

Aber wie auch immer: Die Art, wie hier Verse verfremdet und abgewandelt werden, gibt sicher auch ein bedenkenswertes Beispiel für die eigenen Versuche ab!

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Ohne Titel

Ein Ungetüm der alten Zeit,
Zu Scherzen stets und Spaß bereit,
Entledigt sich der Schuhe;
Da hebt von seinen Füßen
Ein Duft, mit allem Süßen,
Mit allem Schönen angefüllt:
Sich in des Mittags Ruhe.

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Erzählverse: Der Blankvers (40)

Il Pensieroso

In einem Winkel seiner Werkstatt las
Buonarotti, da es dämmerte;
Allmählich vor dem Blicke schwand die Schrift …
Da schlich sich Julianus ein, der Träumer,
Der einzige der heitern Medici,
Der Schwermut kannte. Dieser glaubte sich
Allein. Er setzte sich und in der Hand
Barg er das Kinn und hielt gesenkt das Haupt.
So saß er schweigend bei den Marmorbildern,
Die durch das Dunkel leise schimmerten,
Und kam mit ihnen murmelnd ins Gespräch,
Geheim belauscht von Michelangelo:
„Feigheit ist’s nicht und stammt von Feigheit nicht,
Wenn einer seinem Erdenlos misstraut,
Sich sehnend nach dem letzten Atemzug,
Denn auch ein Glücklicher weiß nicht, was kommt
Und völlig unerträglich werden kann –
Leidlose Steine, wie beneid ich euch!“
Er ging und aus dem Leben schwand er dann
Fast unbemerkt. Nach einem Zeitverlauf
Bestellten sie bei Michelangelo
Das Grabbild ihm und brachten emsig her,
Was noch in Schilderein vorhanden war
Von schwachen Spuren seines Angesichts.
So waren seine Züge, sagten sie.
Der Meister schob es mit der Hand zurück:
„Nehmt weg! Ich sehe, wie er sitzt und sinnt
Und kenne seine Seele. Das genügt.“

 

Ein Blankvers-Text von Conrad Ferdinand Meyer, der mir einmal gefällt durch seinen Verzicht auf jeden Putz; Meyer erzählt, was erzählt werden muss, und nicht eine Silbe mehr. Dann ist da aber auch eine bemerkenswerte Hereinnahme von Geschichte und Dichtung in den Text, denn als Anmerkung ist dem Text beigefügt, die Worte Julianus‘ („Feigheit ist’s nicht …“) betreffend: Eigene Worte Julians in einem von ihm vorhandenen Sonett.

– Über die Möglichkeiten, die sich dadurch auftun, kann man schon ins Grüblen kommen …