0

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (4)

Die bisher betrachteten „anakreontischen“ Vierheber sind, wie gesagt: hell, leicht, tändelnd und spielend, oft in der Natur verortet (wenn überhaupt). Als Gegenstück stelle ich hier nun einen Text von Christian Morgenstern ein, nicht allzulang, aber schon ein vollwertiges Erzählgedicht; und auf See, im Nebel, dramatisch, technisch … das „Gegenteiligste“, was mir gerade einfiel!

Im Nebel

Schaurig heult das große Dampfhorn
seine Warnung in den Nebel …
Irgendwo antwortet schaurig,
leis bald, lauter bald, ein andres …
Angstvoll stehn die Passagiere,
jeden Nerv gespannt die Mannschaft …
Schaurig heult das große Dampfhorn …
Dumpf antwortet’s aus dem Nebel …
Alles späht, horcht, misst die Pausen,
die Maschine schafft mit Halbdampf,
langsam schiebt durch undurchdringlich
Dunkel der Koloss sich vorwärts …
Schaurig heult das große Dampfhorn …
Dumpf antwortet’s aus dem Nebel …
In den Schiffsraum steigen Wachen,
an den Luken, an den Booten
harrt Bemannung, von der Brücke
schallt des Kapitäns Befehlsruf …
Schaurig heult das große Dampfhorn …
Dumpf antwortet’s näher und näher …
Die Erregung wächst zum Fieber …
Ahnt wer, dass des Todes Hand die
Kompassnadel abgelenkt hat,
dass der Mann am Steuer falsch fährt?
Schaurig heult das große Dampfhorn …
Laut antwortet nächste Nähe …
Böllerschlag -: Schwerfällig tasten
weiße Kugeln in die Dämmrung …
„Schiff an Steuerbord!“ – Zu spät! – Schon
schießt es rauschend, ungeheuer,
unaufhaltsam aus dem Nebel –
grässlich mischen sich die Hörner –
rasend rolln die Steuerketten –
„Rückdampf!“ – Schreie – Donnerkrachen –
alles stürzt zu Boden – Flammen
speit der Kesselraum – der Spiegel
senkt sich – aller Kampf vergebens! –
„Boote ab!“ – Umsonst! – In Wirbeln,
Strudeln, Kratern dreht sich alles
tollen Tanzes in die Tiefe …
Wo verblieb der fremde Fahrer?
Sank er? Fuhr er feig des Weges?
Lautlos lastet dicker Nebel
über totenstillen Wassern.

Bei „Im Nebel“ denkt man wohl eher an Hermann Hesses berühmtes Gedicht („Seltsam, im Nebel zu wandern!“); aber davon ist Morgensterns Schilderung eines Schiffsunglücks sehr weit entfernt!

Gewöhnungsbedürftig ist zuerst einmal die Überfülle an Satzzeichen; aber der kann man ja ganz einfach dadurch entgehen, dass man den Text laut liest und ihm mit den Ohren statt mit den Augen nachspürt. Wie bei allen Erzählt-Gedichten und Erzähl-Versen ist das auch hier ein sehr guter Gedanke!

Den Vierheber selbst nutzt Morgenstern dabei, na: „unauffällig“. Er erlaubt sich nur eine Abweichung vom Metrum: Dumpf antwortet’s näher und näher … hat eine überzählige unbetonte Silbe gegen Ende. Und die Einheit des Verses bewahrt er durchgängig, nur zweimal gibt es einen wirklich harten Zeilensprung: Ahnt wer, dass des Todes Hand die / Kompassnadel abgelenkt hat, und „Schiff an Steuerbord!“ – Zu spät! – Schon / schießt es rauschend, ungeheuer,

Das ist beim Vierheber aber eigentlich immer so: zusätzliche oder fehlende Silben sind die seltene Ausnahme, und der Vers bleibt so gut wie immer als achtsilbige Einheit zu erkennen.

Trotzdem wirken die Verse keineswegs einförmig; Morgenstern nutzt viele Möglichkeiten, innerhalb dieses recht engen Rahmens für Abwechslung zu sorgen. Bezogen auf den letzten Beitrag, in dem ja der Hinweis stand, Verse der Art [i]Viele sollten wieder sterben[/i] seien gefährlich, weil sie „klappern“, meint, die Grundbewegung des Verses überbetonen, weise ich auf diesen Vers hin:

Alles späht, horcht, misst die Pausen,

Da steht das „horcht“ in der Senkung, zählt also eigentlich als unbetont; so kann man aber unmöglich lesen, erst recht nicht, da es durch zwei Komma auch noch zeitlich vereinzelt ist. Das einfachste ist da bestimmt, „späht, horcht, misst“ alles gleich schwer, lang, betont zu lesen; und durch diese Gleichförmigkeit verwischt die Grundbewegung des Verses, das Auf und ab, ziemlich stark.

Man kann das auch in die andere Richtung versuchen, wie bei diesem Vers aus dem im zweiten Teil vorgestellten Gedicht von Götz:

Und es hat ein kühner Fremdling

Hier sind die ersten vier Silben sich sehr ähnlich. Zwar besetzen zwei davon eine Hebungsstelle, aber im Vortrag wird jeder diese vier Silben gleich leicht, kurz, unbetont lesen?! Auch hier verwischt dann die Grundbewegung. Das passt zur Leichtigkeit des Götz-Textes durchaus, bei Morgenstern wäre es fehl am Platz und kommt auch nicht vor.

Darin liegt nun eine der Herausforderungen des Vierhebers: Wählt man zuviele „schwere“ oder zuviele „leichte“ Silben nacheinander, verliert der Vers seine einprägsame Gestalt; wählt man zu wenige, wird er hölzern und klappert. Da gilt es, ein Maß zu finden!

Was Morgenstern sonst noch alles so anstellt im Vers – schaut mal rein. Ich erwähne nur noch diese beiden Verse:

schießt es rauschend, ungeheuer,
unaufhaltsam aus dem Nebel –

Denn deren eindrücklicher „Dreischritt“ hat mich an einen anderen erinnert, aus „Der alte Sänger“ von Adelbert von Chamisso:

Unaufhaltsam, unablässig,
Allgewaltig drängt die Zeit.

Das hat sicher auch etwas mit dem „unaufhaltsam“ zu tun, aber ich denke, es ist vor allem diese Nachdrücklichkeit in der Bewegung, die sich einprägt; denn trochäische Vierheber sind es hier wie da!

0

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (3)

Ich schreibe noch einen zweiten Beitrag zu den Gedichten der Anakreontik, weil ich glaube, diese Art von Texten ist eine (! von vielen) Möglichkeiten, sich in den Vierheber einzuschreiben. Wenn man ihn als Erzählvers gebraucht, schreibt man schnell hunderte von Versen; für so ein kleines „anakreontisches Nichts“ reicht ein Dutzend, und das Gefühl für den Vers stellt sich genausogut ein, jedenfalls das für den „prosanahen Vierheber“.

Ich vergleiche dabei ganz frech ein Gedicht von Ludwig Gleim mit einem kleinen eigenen Text. Zuerst der Gleim:

 

Die Wahl

Könnt ich malen wie Apelles,
Lauter Mädchens wollt ich malen;
Könnt ich nur wie Orpheus spielen,
Lauter Mädchens sollten tanzen;
Könnt ich Tote lebend machen,
Lauter Mädchens sollten leben;
Aber könnt ich, wie ich wollte,
Viele wieder sterben lassen,
Viele sollten wieder sterben,
Viele wollt ich überstreichen,
Dass sie ungemalet blieben,
Und vom ersten Tanz ermüdet
Sollten viele nicht mehr tanzen.

 

„Apelles“ war ein berühmter Maler der Antike; „Mädchens“ sagt man heute nicht mehr, bleibt aber der Lautwirkung wegen selbstredend stehen. Was bietet Gleim nun dem Leser? In der für die Anakreontik kennzeichnenden Mischung aus Wiederholung und Abwandlung stellt er dem Leser drei Möglichkeiten vor Augen, die er dann, etwas ungewöhnlich, in der zweiten Gedichthälfte einfach wieder zurücknimmt (obwohl es eigentlich ja eine Ausweitung ist: „Aber könnt ich, wie ich wollte“).

Meine Verslein setze ich nun einfach darunter, um zu zeigen, wie ein solches Gedicht vielleicht „ins Heute“ geholt werden kann; selbstredend nur in meiner Sprache und nach meinem Geschmack!

 

Der von letzter Sommerwärme
In den Park gelockte Dichter
Sitzt auf einer Bank, und allen,
Die an ihm vorüberschlendern,
Schreibt er lächelnd kleine Verse –
Salbungsvolle Schmeicheleien
Allen Herren, allen Damen
Unbeschwerte Nettigkeiten,
Reime ohne Sinn den Kindern;
Sagt der Hunde Namen so, dass
Dieses eine Wort Gedicht ist …

 

Eigentlich macht dieser Text nichts anders als der über zweihundert Jahre ältere: er stellt dem Leser ein Bild vor Augen, dann fächert er das Bild in einem Dreischritt auf; schließlich geht er noch einen weiteren Schritt, hinaus über die eigentlich geschlossene Dreiheit „Mann – Frau – Kind“, und findet dabei irgendwie die kleine Besonderheit, die geeignet ist, das Gedicht zu schließen.

Das ist nun keinesfalls ein besonders eindrucksvolles Gedicht; aber es ist, finde ich, ein Text, den man auch im 21. Jahrhundert ohne größeres Befremden lesen kann und damit vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Art, in der die Anakreontiker den Vierheber verwendet haben, auch den heutigen Verfassern in angepasster Form zur Verfügung steht!

In Bezug auf die Form widersprechen beide Texte dem, was ich im letzten Beitrag geschrieben habe: Meine Verse haben nur in knapper Mehrheit einen Einsilber im Verseingang – sechs zu fünf; bei Gleim sind die Zweisilber selbst dann mit acht zu fünf in der Überzahl, wenn man die verkürzten Zweisilber „könnt“ großzügig zu den Einsilbern zählt.  Gut tut das seinem Gedicht nicht immer, denn Zweisilber im Verseingang vergrößern die Gefahr solcher Verse:

Viele / wieder / sterben / lassen,
Viele / sollten / wieder / sterben,

Dabei fallen die „metrischen Grundeinheiten“, die Trochäen „X x“, mit den im Deutschen sehr häufigen „Worteinheiten“ der Art „X x“ zusammen, wodurch der Vers seine innere Spannung verliert und zu „klappern“ beginnt, wie Heine und andere das so schön genannt haben: die ständige Wiederholung ein und derselben Bewegung erinnert an ein Marschieren, eine Art leblosen Stechschritt.

Das ist eine Sache, auf die man im Vierheber ein wachsames Auge haben muss! Ein Vers dieser Art ist sicher unbedenklich, und es gibt auch Fälle, wo man derlei zur Unterstützung des Inhalts einsetzen kann; aber im allgemeinen sind zwei Verse dieser Art nacheinander, wie hier bei Gleim, die äußerste Grenze.

Besser bewegt sich zum Beispiel dieser Vers:

Und / vom / ersten / Tanz  / er- / müdet

Da „schneiden“ sich die Trochäen (rot) und die Wort-, bzw. Sinneinheiten (grün), wodurch der Vers lebendig wirkt. Wobei gerade dieser sich inhaltlich nicht gegen eine gewisse Einförmigkeit sträuben würde …

So, damit lasse ich den anakreontischen Vierheber erst einmal ruhen; im nächsten Beitrag geht es dann um einen längeren Erzähltext in Vierhebern!

0

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (2)

Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Vierheber von den „Anakreontikern“ benutzt als Nachbildung eines in der Antike von Anakreon verwendeten Verses, erst zur Übersetzung der Gedichte des Anakreon, danach in Gedichten ähnliches Inhalts – es ging also um leichte, tändelnde, scherzende Gedichte, die vor allem um die Liebe kreisten, den Wein, die Freundschaft.

Der Vierheber bildet die Sprache durchaus. Wenn der Verfasser sich vertraut und dem Vers auch, dann kann er diesem „Druck“ bewusst nachgeben, und die meisten der im folgenden behandelten epischen Dichter haben das auch getan; das Ergebnis sind dann deutlich von der gewöhnlichen Sprache abweichende Verse.

Man kann aber auch ohne große Schwierigkeiten in unmittelbarer Nähe der Prosa bleiben. Diesen Weg sind die Anakreontiker gegangen, zum Beispiel der von mir sehr geschätzte Johann Nikolaus Götz:

Die herrschenden Gedanken

Wie die gelben Schmetterlinge,
Doris, um die Rosen fliegen,
Also fliegen die Gedanken,
Die aus meiner Seele kommen,
Hin und her um deine Schönheit.
Taumeln dann, von deiner Anmut
Und von deinen Blicken trunken,
Wie die jungen Bienenschwärme
Auf den süßen Kleegefilden
Von Gerüchen trunken taumeln.
Dann ermuntern sie sich alle,
Sich auf Zweige hinzusetzen,
Und einander deine Reize
Und Geschichten zu erzählen.
Wenn sie nun beim Abendstrahle
In ihr Nest zurücke kehren,
Und es hat ein kühner Fremdling
Ihre Wohnung eingenommen:
Beißen sie ihn fort, und üben
An ihm und an seinen Kindern
Nicht einmal das süße Gastrecht.

Eigentlich ist das nur heiße Luft, ein Versuch, „Etwas“ aus „Nichts“ zu machen. Eine Anrede, die aber keinem wirklichen Menschen gilt, ein Vergleich, dann noch einer, andersherum angeordnet; dann eher etwas in Richtung „Vögel“ (sich auf Zweige setzen, Nest), ohne dass es ausgesprochen würde, und dann der etwas kräftigere Schluss mit seinem „Fortbeißen“; die Rechtfertigung und Erklärung des Titels.

Trotzdem liest sich der Text sehr angenehm, er „fließt“, die Verse sind unterscheidbar, ohne dass sich die Sätze  verlieren; alles ist aufeinander abgestimmt und bezogen. Ein typisches Gedicht der Anakreontik eben!

Für die Betrachtung des Verses wichtig: die Mehrzahl der Verse fängt mit einem Einsilber an, nur wenige mit einem Zweisilber der Form „X x“. Das ist durchaus die Regel im Vierheber! Das einleitende einsilbige Wort ist dabei meist nur darum „hebungstauglich“, weil die nachfolgende, die zweite Silbe, noch schwächer ist als die erste und dadurch die Rangordnung „betonte Silbe, unbetonte Silbe“ gewahrt bleibt:

Von Ge- /chen / trunken / taumeln.

Götz handhabt das sicher, nur einmal schwimmt ein Vers etwas, der vorletzte:

An ihm / und an / seinen / Kindern

Da ist „an“ sicher nicht „an sich“ stärker als „ihm“, inhaltlich betrachtet eigentlich eher schwächer; und die Reihung von  vier eigentlich unbetonten Einsilbern lässt den Vers keine Sicherheit gewinnen. Aber diese gewisse Lässigkeit ist durchaus eine der Eigenschaften, die Götz‘ Verse so anziehend machen!

 

0

Erzählverse: Der trochäische Vierheber (1)

Der trochäische Vierheber sieht im Silbenbild so aus:

X x X x X x X x

Wobei X  eine betonte Silbe meint, und x eine unbetonte Silbe.

Dieser Vers ist schon wirklich lange in der deutschen Dichtung vertreten, vor allem in gereimter Form als Bestandteil strophischer Gedichte. Hier, soll er aber in seiner ungereimten und gereihten Form betrachtet werden! Verwendet worden ist er so in vielen Bereichen, ich möchte ihn hier vor allem als epischen Erzählvers vorstellen; aber auch die anderen Verwendungen werden erwähnt, unter anderem gleich zu Beginn des Fadens.

Diese Art des „Vierhebers“ (ich erspare mir ab jetzt das „trochäisch“) ist ein sehr einfach zu schreibender Vers, eigentlich ein für Einsteiger bestens geeignetes Maß: man schwingt fast sofort in seinen Tonfall ein, und die Ergebnisse sind immer als „gestaltete“ Sprache zu erkennen!

Wenn er aber nicht nur „brauchbar“ klingen soll, sondern „wirklich gut“: dann braucht ein Verfasser auch beim Vierheber eine klare Vorstellung davon, wie das Innenleben des Verses aussieht. Daher wird es hier nach und nach um die Eigenheiten des Verses gehen. Dazu zählen:

– Der Vers ist mit acht Silben recht kurz. Welche Sätze, welche Satzteile fügen sich gut in diesen Rahmen, welche weniger gut?!

– Der Vers ist starr; er hat zum Beispiel viel weniger Möglichkeiten, die grundlegende Silbenanordnung abzuwandeln, als der Blankvers. Trotzdem muss er auf längere Strecken abwechslungsreich klingen, muss die Aufmerksamkeit des Hörers wachhalten.

Wie gelingt das?! Wie muss dazu der Versbeginn, wie das Verinnere, und wie vor allem das Versende gestaltet werden? Was darf man dabei nicht machen??

– Der Vers ist ungereimt, sollte aber, wie jeder Vers, als grundlegende Einheit des Textes erfahrbar sein; sich nicht vollständig dem Satz unterordnen. Wie bestimmt sich im Vierheber dieses Spannungsverhältnis zwischen Vers und Satz?

– Welche der Lösungen, die in vergangenen Jahrhunderten für diese Fragen gefunden worden sind, sind auch heute noch anwendbar? Welche neuen Möglichkeiten sind denkbar?

Es gäbe noch ein paar andere Dinge, aber ich denke, das genannte reicht fürs erste, damit kann man schon einiges anfangen!